Pferderennbahnen in München:Doppelrolle vorwärts

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Die Stimme von oben: In Daglfing kommentiert Sascha Multerer für das Bahnpublikum jeden Trabrenntag. (Foto: Claus Schunk)

Nur tausend Meter liegen zwei der letzten Pferderennbahnen Bayerns auseinander, und nicht immer waren die handelnden Personen einander wohlgesonnen. In Sascha Multerer gibt es nun einen, der in beiden Vereinen gleichzeitig eine wichtige Rolle einnimmt. Die Frage drängt sich auf, ob daraus eine gemeinsame Zukunft erwachsen könnte.

Von Andreas Liebmann

"Nehmen wir Riem, das Büro ist schöner", hat Sascha Multerer am Telefon vorgeschlagen, also sitzt er nun an einem gediegenen Konferenztisch, einen Schal um den Hals, die Beine lässig übereinandergeschlagen. Das Sekretariatsgebäude der Münchner Galopprennbahn mit seiner weiß getünchten, mit Efeu überwucherten Holzfassade und den grünen Fensterrahmen ist denkmalgeschützt, Baujahr 1897. An den Wänden des besagten Büros hängen historische Pferdebilder, in Regalen stehen Rennkalender aus dem 19. Jahrhundert, darauf ein paar kleine Plastiken. Gerade spricht Multerer recht offen über die Sorgen der benachbarten Trabrennbahn mit ihren für die heutigen Erfordernisse überdimensionierten Tribünenbauten im Siebziger-Jahre-Stil: Glas, Beton, Mobilfunkantennen, Flohmarktutensilien. Kurz möchte man denken: Leicht reden hat er hier in seinem Idyll. Lass das bloß die Nachbarn nicht hören!

Aber die Nachbarn kommen klar. Sie sitzen mit am Tisch. Nicht nur Multerer, der Generalsekretär des Münchener Rennvereins (MRV) aus Riem, ist zu dieser Verabredung erschienen, sondern auch der Rennsekretär des Münchner Trabrenn- und Zuchtvereins (MTZV), der die Trabrennbahn Daglfing betreibt. Er sitzt mit am Tisch, sogar auf demselben grünen Polsterstuhl, und wirkt keineswegs beleidigt. Er heißt ebenfalls Sascha Multerer.

Der "heilige Rasen", wie der 44-Jährige die Galopprennbahn nennt, ist mit Reif überzogen, draußen herrscht winterliche Ruhe. Schon am 11. November hat der MRV seine kurze Saison beendet. In Daglfing wird traditionell länger in den Winter hineingetrabt, dort war erst am zweiten Weihnachtsfeiertag Saisonabschluss. Multerer hat mit der ihm eigenen Professionalität auch diesen Renntag am Mikrofon begleitet. Schon seit geraumer Zeit repräsentiert er beide Bahnen und Vereine in der Öffentlichkeit, nimmt hier wie dort wichtige Positionen ein. Er kennt also die Probleme beider Seiten, die einander in der Vergangenheit nicht immer wohlgesonnen waren. Natürlich hat auch Riem Mühe, durch die Corona-Jahre hindurch einen Weg in eine finanziell gesicherte Zukunft zu finden. Darüber kann das malerischste Bauwerk nicht hinwegtäuschen.

"Ich muss vorsichtig sein in meiner Doppelfunktion. Ich muss ja schauen, dass ich für beide Bahnen immer das Beste heraushole."

"Ich muss vorsichtig sein in meiner Doppelfunktion", sagt er nun, "ich muss ja schauen, dass ich für beide Bahnen immer das Beste heraushole." Bis jetzt ist es Multerer geglückt, das Vertrauen beider Seiten nie zu enttäuschen. Ganz theoretisch könnte er in seiner Doppelrolle derjenige werden, der die beiden Bahnen mit ihrer stolzen Historie nach so langer Zeit zusammenführt; solche Pläne gibt es. Der also endlich zusammenwachsen lässt, was längst zusammengehört, wie diejenigen meinen, die in einer Kooperation eine historische Chance sehen - wobei es auch die andere Fraktion gibt, für die das so ziemlich das Letzte wäre, was sie sich vorstellen könnten. Im Alltagsgeschäft helfen sie einander jetzt schon aus, Riem und Daglfing, mit Corona-Plakaten, einer Jockey-Waage, solchen Dingen. "Und wir haben jetzt immer den gleichen Wissensstand", betont Multerer.

Es ist eine lange Geschichte, wie der gebürtige Münchner in diese kuriose Lage kam. Sie beginnt in seiner Kindheit und setzt gewissermaßen eine Familientradition fort. Schon seine Urgroßeltern hatten Pferde. Den Bezug zu den Rennbahnen gab es von Anfang an. Der Großvater war Rennleitungsvorsitzender - in Riem und Daglfing, was durchaus ungewöhnlich war. Seine Taufpatin besaß einen Trabrennstall. Seine Mutter habe dann mit 21 begonnen, im Toto auf beiden Bahnen zu arbeiten, auch später noch, als sie Lehrerin war. Ihren Sohn nahm sie nur selten mit. "Vielleicht hat die Rennbahn deshalb so eine Faszination auf mich ausgeübt", sagt Multerer. Als Jugendlicher verdiente er sich in Daglfing etwas Geld, mit Stallarbeit, als Läufer, der Richtersprüche oder Wechselgeld über die Anlage trug, später im Toto und als Rennbahnsprecher. Bis 2001 ging das so, dann wollte er andere Seiten dieses Geschäfts kennenlernen.

Ziel erreicht: Für die Galopprennbahn Riem ist Sascha Multerer mittlerweile als Generalsekretär verantwortlich. (Foto: SZ)

Die glorreichen Zeiten des Pferderennsports waren da längst vorbei. Dreieinhalb Bahnen existieren noch in Bayern: Pfarrkirchen, wo aber nur noch an Pfingsten Pferde laufen, Straubing (jeweils Trab) - und diese beiden Anlagen im Münchner Osten, die nur etwa 1000 Meter voneinander entfernt sind. Seit 1865 gibt es den MRV. Lange fanden seine Rennen, anfangs unterstützt von König Ludwig II., auf dem Oberwiesenfeld statt, von 1897 an in Riem. Der MTZV wurde 1902 gegründet und eröffnete die Rennbahn Daglfing. Münchner Trabrennen fanden aber bereits 1867 statt - auf der Theresienwiese. Dass dereinst ein florierendes Wettgeschäft ins Internet abwandern würde, war noch außerhalb jeder Vorstellungskraft. Vor 17 Jahren jedenfalls verkaufte der MTZV vor der Kulisse einer drohenden Insolvenz das vereinseigene Rennbahngelände. Irgendwann soll auf dem Areal Wohnraum entstehen. Bis es soweit ist, lässt ihn der neue Eigentümer weiter Rennen abhalten, nach aktuellem Stand mindestens bis 2026.

Im Januar 2018 stand Sascha Multerer vor der Frage, wie es für ihn weitergehen sollte. Er hatte viel erlebt bis dahin, zuletzt war er als Geschäftsführer für einen großen Wettanbieter nach Malta gezogen. Doch dann, "in einer Nacht der langen Messer", wie er sagt, stellte das Unternehmen die gesamte Sparte ein. 370 Mitarbeitern wurde gekündigt, sie standen mit Kartons auf der Straße herum. Multerer selbst bekam noch ein paar Gehälter, aber für die neue Aufgabe hatte er in Deutschland alles hinter sich gelassen. "Ich habe mich gefühlt wie ein geschlagener Hund."

Bei Pferdewetten.de hatte er neben seinem Jura-Studium gearbeitet, im Audio-Stream französische Trabrennen kommentiert, sich zum Geschäftsführer einer Service GmbH hochgearbeitet. Dann kam der Wechsel zu Wettstar.de, wo er den Aufbau des Online-Geschäfts mitgestaltete und in Krefeld und Köln dem Galoppsport näherkam. "Bis dahin war Trab meine Nummer eins, auch wenn der Sport schon in einer schwierigen Lage war." Multerer machte sich danach selbständig, das führte ihn eines Tages auch in dieses Büro hier hinein, wo er mit Riems damaligem Generalsekretär Horst Lappe zusammensaß - um fortan die Öffentlichkeitsarbeit des MRV zu verrichten. Dann kam Malta. Nach seiner Entlassung blieb er noch etwas auf der Insel, fand aber "keine rechte Idee", wie er weitermachen sollte. Mit 15, 16 habe er mal den Plan gehabt, Geschäftsführer einer Rennbahn zu werden, das fiel ihm am Strand wieder ein.

Heute ist er also genau das. Generalsekretär, wie die Position beim MRV heißt. Zunächst aber war es Angelika Gramüller, die Präsidentin des MTZV, die ihn während eines Renntags in Daglfing abpasste. Ihr Verein hatte sich von seinem Geschäftsführer getrennt, viele Aufgaben waren unbesetzt, also stieg Multerer, der seit seiner Heimkehr in Riem wieder die Öffentlichkeitsarbeit machte, in Daglfing als Rennsekretär und Vorstandsberater ein. Als Corona kam, erarbeitete er Konzepte, die Daglfing bis zum vollständigen Lockdown und bald danach die Austragung der Renntage ermöglichten, und auch für Riem musste er bald solche Konzepte erstellen. Denn Horst Lappe, der ebenso umtriebige wie beliebte Geschäftsführer, war an Krebs erkrankt. Der Verein brauchte Unterstützung.

Im Münchner Osten wird ein Wohngebiet geplant. Wenn es kommt, wird die Trabrennbahn weichen

Lappe sollte nicht mehr zurückkehren. Er starb am 18. Dezember 2020, im Alter von 61 Jahren. Als MRV-Präsident Dietrich von Boetticher Multerer die Nachfolge anbot, machte der es zur Bedingung, dass er auch seinen Aufgaben bei den Nachbarn in Daglfing weiter nachgehen dürfe. "Die haben mir damals sehr geholfen, da wollte ich niemanden im Stich lassen."

Und nun?

Die Lage ist kompliziert. Im Münchner Osten wird ein Wohngebiet geplant, für bis zu 30 000 Menschen. Wenn es kommt, wird die Trabrennbahn weichen, dazu hat der niederbayerische Unternehmer Günther Karl das Areal damals schließlich erworben. Noch hängt vieles an der Frage, wie der neue Stadtteil verkehrlich angebunden werden soll, eine S-Bahnstrecke liegt im Weg, möglicherweise aber auch die Olympia-Reitanlage von 1972, die sich ebenfalls - noch - in unmittelbarer Nachbarschaft zu den Rennbahnen befindet. Der Riem-Multerer muss sich keine allzu großen Sorgen machen, die Galopprennbahn ist nach aktuellem Stand nicht tangiert. Allerdings hatte der MRV noch unter Geschäftsführer Lappe den kühnen Plan entwickelt, selbst einen Teil des riesigen Trainingsgeländes mit Wohnungen zu bebauen und die Mieteinnahmen als Zukunftssicherung zu verwenden. Riems Stallungen sind marode, der Rennbetrieb seit Jahren defizitär, der Verein braucht dringend langfristige Einnahmen. Im Moment sehen die Planer das 44 Hektar große Trainingsgelände aber nicht als Bauland vor, sondern als zu erhaltende Grünfläche. Für den MRV war das ein Rückschlag. "Für meine Begriffe ist da noch nichts in Stein gemeißelt", sagt Multerer.

Anders ist es mit Daglfing. Ehe hier die Bagger anrollen, muss der MTZV eine neue Heimat gefunden haben, je früher, desto besser. Eine, die für Aktive wie Publikum akzeptabel und gut erreichbar ist. Das Grundstück muss der Verein selbst besorgen, aus den Mitteln, die vom Verkauf des alten Geländes übrig sind. Zum Bau der neuen Bahn ist der Unternehmer Karl verpflichtet - das war Teil eines Vergleichs am Ende einer juristischen Auseinandersetzung. Und nun wäre da also die vor allem für die Daglfinger verlockende Aussicht, in die benachbarte Galopprennbahn, in deren Innerem bereits ein Golfplatz unverzichtbare Mieteinnahmen bringt, demnächst noch ihre Trabrennbahn zu integrieren.

"Denkbar ist das", sagt Multerer. Das großzügige Gelände gäbe es her. Vergleichbare Doppelbahnen gibt es, in Frankreich, auch in Italien. Und doch sei alles viel schwieriger, als er anfangs angenommen hätte. Er geht nicht ins Detail. Vermuten kann man, dass weniger bauliche als juristische Fragen im Weg stehen: Wie kann ein Verein seine Anlage auf dem Eigentum eines anderen Vereins bauen lassen und betreiben? Wie kann der MRV aus einem solchen Modell einen finanziellen Nutzen ziehen, ohne dass der MTZV dafür alles aufgeben muss? "Verhalten optimistisch" sei er, sagt Multerer vage. So, wie er es betont, hört man vor allem: verhalten.

Andere Städte engagierten sich sehr wohl für den Pferdesport als Kulturgut

Und so beantwortet er die Zukunftsfragen beider Bahnen doch eher getrennt voneinander. Dass die Galoppsportler sich wohl fühlten in Riem; dass sie sehr wohl wüssten, welches Kleinod sie hier besäßen, und in ihrem Eigentum auch die Verpflichtung sähen, es der Münchner Bevölkerung als Freizeitfläche zu erhalten; dass das aber nur möglich sei, wenn die Stadt dem Verein auch irgendeine Möglichkeit einräume, mit seinem Eigentum Geld einzunehmen, ob durch eine Teilbebauung oder auf anderen Wegen. "Wir haben hier das größte innerstädtische Reitsportzentrum Europas, aber die Stadt interessiert sich nicht dafür", klagt Multerer, "es ist fast beschämend." Andere Städte engagierten sich sehr wohl für den Pferdesport als Kulturgut, und sei es nur auf dem Umweg einer Förderung durch kommunale Unternehmen. Bekäme man im Jahr 300 000 bis 500 000 Euro, sagt Multerer, "wäre alles fein".

Daglfing ist ein anderer Fall. Nicht kulturell natürlich: "Das Oktoberfest war mal ein Trabrennen", betont Multerer auch hier die historische Bedeutung, "nur interessiert das keinen mehr." Das Grundstück aber ist ja schon weg. Vor einem Umzug, wohin auch immer, müsste man eine Art Kassensturz machen, nicht nur in finanzieller Hinsicht. Man müsse kritisch hinterfragen, wie es mit der Nachhaltigkeit aussieht, führt Multerer aus: "Ist die Sportart prosperierend? Gibt es noch genug Menschen, die sie ausüben?"

Wieder ist man kurz geneigt zu denken: Leicht reden hat er, hier in Riem. Doch damit täte man Multerer sehr unrecht. Seit Jahren schon fällt Daglfing die unlösbare Aufgabe zu, auf einem längst verkauften, unrentablen Gelände möglichst viel in den Fortbestand des bayerischen Trabrennsports zu investieren, damit ein Umzug sich noch lohnt - und gleichzeitig das für diesen Umzug nötige Geld beisammenzuhalten. Zuletzt gab es in der Vermarktung der Rennen einige Erfolge. Und sobald er dieses Büro hier verlässt, um tausend Meter stadteinwärts das andere zu betreten (vom dem aus man übrigens einen schönen Ausblick hat), wird Sascha Multerer dort wieder versuchen, genau daran anzuknüpfen.

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