Rollstuhlbasketball:Mit großen Zielen im Hier und Jetzt

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Topscorerin gegen Kanada: Kapitänin Mareike Miller (r.). (Foto: BEAUTIFUL SPORTS/Wunderl/imago images/Beautiful Sports)

Wenige Wochen vor den Paralympics trennten sich die deutschen Rollstuhlbasketballerinnen von ihrem Cheftrainer. Das Ziel bleibt trotzdem die Goldmedaille.

Von Thomas Hahn, Tokio

Anne Patzwald warf. Und dann war es, als würde sich die Zeit dehnen im Spiel der deutschen Rollstuhlbasketballerinnen gegen Kanada. Der Ball schlug auf den Ring, nochmal und nochmal. Es war ein langsamer, quälender Tanz. Alle schauten zu, wie der Ball dort oben um die Mitte des Korbes kreiste. Irgendwann fiel der Ball dann doch hinein ins Netz. Zwei Punkte für Deutschland. 59:57, 14 Sekunden vor Schluss. Die Spannung löste sich, Kanadas letzter Angriff begann. Puisand Lai nahm einen Rebound auf. Sie zielte. Der Ball verließ ihre Hand. Die Sirene schrillte. Der Ball fiel ins Netz. Doch es war zu spät. Die Deutschen jubelten.

Es ist kein einfacher Start für die Mannschaft des deutschen Parasport-Verbandes DBS bei den Paralympics in Tokio. Ihre besseren Tage kommen erst später, das wissen alle, und auch wenn der DBS aus guten Gründen nichts vom übertriebenen Medaillenzählen hält - der Blick auf die Nationenwertung quält gerade ein bisschen. Platz 40, die deutschen Ansprüche sind höher. Aber man darf sich nicht verrückt machen lassen. Deshalb tut den DBS-Gesandten jetzt alles gut, was Stärke zeigt. Fünf Medaillen kamen am Samstag ja immerhin zur Gesamtausbeute dazu: Jeweils Silber holten der Rollstuhl-Tischtennisspieler Thomas Schmidberger von Borussia Düsseldorf und der Leverkusener Prothesenweitspringer Léon Schäfer. Bronzemedaillen gewannen die Berliner Schwimmerin Verena Schott, die Berliner Tischtennisspielerin Stephanie Grebe sowie die Leichtathletik-Sprinterin Lindy Ave aus Greifswald.

"Wir können uns aus jedem Loch rausziehen", sagt Barbara Groß über die Mannschaft

Und auch der Sieg der Rollstuhlbasketballerinnen gegen Kanada gehörte zu den aufbauenden Errungenschaften. Es ist schon ihr dritter im dritten Spiel. Die Frauen sind im Plan, und gegen Kanada zeigten sie außerdem, dass ihr Kollektiv krisenfest ist. Nach dem dritten Viertel führte die Mannschaft nämlich eigentlich schon mit zehn Punkten Vorsprung. Dann spielte Kanada aggressiver, die Deutschen machten mehr Fehler und hätten den Sieg fast noch verspielt. Aber eben nur fast, obwohl Kapitänin und Topscorerin Mareike Miller (19 Punkte) am Ende mit fünf Fouls auf der Bank bleiben musste. Die Siegerinnen fanden das ein gutes Zeichen.

"Wir können uns aus jedem Loch rausziehen", sagte Barbara Groß. "Wir haben es geschafft, in einem engen Spiel, in dem nicht alles perfekt lief, den Sieg nach Hause zu bringen", sagte Miller. Und Bundestrainer Dennis Nohl nannte die Leistung "ein wichtiges Statement".

Es ist jetzt tatsächlich keine Zeit für Selbstzweifel. Keine andere deutsche Para-Mannschaft war in den vergangenen Jahren so erfolgreich wie die Rollstuhlbasketballerinnen. Gold bei den Paralympics 2012 in London, Silber in Rio 2016. Dann kam der Umbruch, und trotzdem gab es zwei dritte Plätze bei der WM 2018 und der EM 2019. Keine andere deutsche Para-Mannschaft hat deshalb auch so viel Druck, wieder etwas gewinnen zu sollen. Und diesmal kommen erschwerte Bedingungen hinzu. Denn wenige Wochen vor den Paralympics hat sich das Team mit seinem Baumeister entzweit. Am 26. Mai meldete der Deutsche Rollstuhl-Sportverband (DRS) noch, dass Martin Otto, seit 2016 als Cheftrainer mit dem Neuaufbau beauftragt, den Paralympics-Kader für Tokio benannt habe. Nur wenige Tage später meldete der DRS, Assistent Nohl übernehme den Posten. Ein ungewöhnlicher Vorgang.

Die Basketballerinnen wollen in Tokio Gold gewinnen. Deshalb können sie den Ärger gerade nicht aufwärmen. Schon kurz nach der Trennung von Martin Otto hielten sie sich eher bedeckt. Das Fachmagazin Rollt. stellte damals die passenden Nachfragen und erntete insgesamt viel Schweigen und Kein-Kommentar-Rhetorik. Die Mannschaft schickte ein "abgestimmtes Statement", in dem es hieß, es hätten sich "leider Unstimmigkeiten gehäuft": "Wir können uns keinen gemeinsamen Weg nach Tokio mehr vorstellen."

Den konnte sich Otto dann wohl auch nicht mehr vorstellen. So kann man ihn jedenfalls in einem Interview verstehen, das er Rollt. gab. "Für mich fühlt es sich wie ein Kollateralschaden der Corona-Pandemie an", sagt Martin Otto darin. "Es gab Probleme wegen des Hygienekonzepts." Bei einem Lehrgang sei er "von einer der Kapitäninnen" darauf angesprochen worden. Die Details werden nicht klar, aber das Team störte offenbar, was er dazu sagte. "Was folgte, war ein Mannschaftsbeschluss, dass die Mannschaft aufgrund dessen kein Vertrauen mehr habe", sagt Martin Otto in dem Interview. Ende der Geschichte.

Die deutschen Rollstuhlbasketballerinnen sind eine Gruppe sehr zielstrebiger Frauen. Sie wissen, was sie wollen. Das merkt man, wenn sie spielen. Das merkt man, wenn man mit ihnen in der Interviewzone spricht. Und wenn sie glauben, kurz vor dem Paralympiade-Höhepunkt ihren Chefcoach absetzen zu müssen, tun sie das eben. Neu-Bundestrainer Dennis Nohl, 33, nennt sich selbst "Feuerwehrmann". Mit ihm kann die Mannschaft offensichtlich.

"Ist schon einige Wochen her", sagt Kapitänin Mareike Miller zu dem ganzen Ärger nüchtern. Sie und die anderen haben jetzt andere Sachen im Kopf. Das Spiel von morgen ist wichtiger als der Streit von gestern - so denken Siegertypen mit Zielen. "Ich glaube", sagt Mareike Miller, "wir wären nicht so stark, wie wir sind, wenn wir uns nicht auf das Hier und Jetzt konzentrieren könnten."

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