König Carl Gustaf kam mit dem Schiff übers Meer. Oben am Berg hatte er eine Siegerin zu ehren: Annemie Schneider, Alpin-Skifahrerin ohne linkes Bein. Vor 40 Jahren schwang sich die Bischofswiesenerin im schwedischen Örnsköldsvik mit drei Siegen zur überlegenen Athletin der ersten Paralympischen Winterspiele auf. Die Öffentlichkeit nahm davon allerdings kaum Notiz. Anna Schaffelhuber hingegen, der Star der jüngsten Spiele von Sotschi, ist auch zwei Jahre nach ihrem Fünffach-Gold nicht aus dem Fokus gerutscht - und nutzt die Aufmerksamkeit zur Werbung für den Behindertensport.
Wertschätzung zu erfahren, kann anstrengend sein. Zeitraubend ist es in jedem Fall. Anna Schaffelhuber weiß das spätestens seit vergangenem November. Da flog sie unter erschwerten Bedingungen im Lufthansa-Pilotenstreik nach Mexiko-Stadt und 23 Stunden später wieder zurück. Im Gepäck: die Auszeichnung als Weltbehindertensportlerin. Zuletzt ist der 23-Jährigen alles ein wenig zu viel geworden. Mehrere Rennen ließ sie aus, zum Weltcup-Finale in Aspen (USA) reist sie mit Verspätung am Samstag. "Ich habe eine kleine Pause gebraucht, wollte mich um mein Studium kümmern", sagt sie - und betont, um Missverständnissen vorzubeugen: Am Rummel um ihre Person hat es nicht gelegen. "Es ist super, dass das Interesse nach Sotschi nicht sofort wieder abgeebbt ist." Schaffelhubers Prinzip: Ist sie in Presse, Funk und Fernsehen zu sehen, ist es ihr gesamter Sport auch.
Je steiler und eisiger die Piste, desto größer ihr Vorsprung. Bis Lillehammer 1994 war sie dabei
Öffentliche Auftritte haben sich bei Annemie Schneider immer in Grenzen gehalten. Sie hat die Aufmerksamkeit nie offensiv gesucht. Schneider wollte fahren, wollte sich messen, wollte siegen. Bevor sie das in einem größeren Rahmen durfte, musste sie 30 werden. 1974 gingen im französischen Le Grand-Bornand die ersten Weltmeisterschaften über die Bühne. Die Premiere der "Olympischen Spiele der Gelähmten" folgte zwei Jahre später. Endlich waren Skifahrer, Langläufer und Biathleten auch in den Sphären der legendären Wettkämpfe angekommen - die Sommersportler waren es schon seit Rom 1960. Endlich waren sie Teil jenes Ereignisses, das für viele Athleten das ultimative Ziel darstellt. "Die erste WM war schon intensiv. Aber was in Örnsköldsvik folgte, war richtig besonders", sagt Schneider. In der Konkurrenz der Monoskifahrer war die Bischofswiesenerin die überragende Starterin der Anfangsjahre, gewann so viele Rennen, dass sie sich heute nicht mehr an alle erinnern kann. "Ich hatte optimales Material", sagt sie. Je steiler und eisiger die Piste, desto größer ihr Vorsprung. Bis Lillehammer 1994 war sie dabei. In Norwegen gewann sie mit über 50 noch einmal Bronze. "Ich war die Oma der Nation", sagt sie.
Ehrgeizig ist die spätere Oma schon als Jugendliche gewesen. Da war sie nicht weit entfernt vom Sprung in den Nationalmannschaftskader - bis sie an einem Bahnhof in Bad Reichenhall ein Zug überrollte. Die Ärzte amputierten ihr einen Oberschenkel. Für Schneider war es wie ein Stich ins Herz. Sie fuhr weiter Ski, spricht aber bis heute ungern über den Unfall und ihre Gefühle deswegen. "Selbstschutz", sagt sie. Den neugierigen Fragen gaffender Menschen am Skilift begegnete sie mit bissigen Gruselgeschichten, erzählte von Begegnungen mit Löwen oder Krokodilen. Irgendwann schottete sie sich per Walkman ab. Doch das Ambivalente an ihrer Haltung gegenüber dem Handicap ist ihr bewusst: "Ohne diesen Unfall wäre ich nie so erfolgreich geworden."
Heutzutage muss Anna Schaffelhuber nicht auf Bettelbriefe zurückgreifen
Der Erfolg war teuer. "Das Geld, das ich im Sommer verdiente, habe ich im Winter verpulvert." Zwar genoss sie als Chefsekretärin am Skiinternat Christophorus in Berchtesgaden die Gelegenheit, mit dem Nachwuchs des Deutschen Ski-Verbands zu trainieren. Doch finanzielle Unterstützung für die Ausrüstung, die Reisen und die Unterkunft gab es kaum. Vor Lillehammer schrieb sie erfolgreich Freunde und potenzielle Sponsoren ihres Umfelds an und bat um Hilfe. Sie hätte sonst nicht antreten können.
Anna Schaffelhuber muss auf Bettelbriefe nicht zurückgreifen. Die öffentliche Aufmerksamkeit und Akzeptanz des Behindertensports hat sich gewandelt seit 1976. Und ebenso seit 1994, als die damalige Seriensiegerin Reinhild Möller sich zu dem Appell an die Medien veranlasst sah, doch mal im Sport- und nicht mehr im Kulturprogramm über sie zu berichten.
Die Verbesserungen hindern Anna Schaffelhuber aber nicht daran, den Finger in Wunden zu legen. Daran, auf "nach wie vor gravierende Unterschiede bei der Sportförderung" hinzuweisen. Oder auf generelle Versäumnisse im Umgang mit Behinderten. Theoretisch stehe ihr Münchens Olympiastützpunkt zum Training offen. "Es bringt mir aber wenig, wenn ich sieben Krafträume habe und vor jedem sind zehn Stufen." In Sachen Barrierefreiheit, sagt Schaffelhuber, sei Deutschland im internationalen Vergleich allenfalls Mittelmaß. Solche Defizite thematisieren zu können, eine Folge von Sotschi, sieht sie als Privileg. Und als Aufgabe.