Olympische Spiele in Peking:Küsse für den Frieden

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Wie die Georgierin Nino Salukwadse und die Russin Natalja Paderina nach dem Schieß-Wettbewerb auf dem Siegerpodest die Olympische Charta mit Leben erfüllen.

Thomas Kistner

Weltweit, sagt die Olympische Charta, sollen die Spiele Waffenruhe schaffen. Stattdessen begann während der Eröffnungsfeier am Freitag ein Krieg. Nun wollte es eine bizarre Dramaturgie, dass der anrührendste Moment des Wochenendes ausgerechnet an einem Schießstand zu erleben war: Im Hintergrund Zielscheiben, auf dem Podium die Pistolen-Schützinnen. Langsam, aufreizend langsam, ziehen die Flaggen unters Hallendach: Chinas rote Fahne, links davon die russische, rechts die weiße mit dem roten Kreuz Georgiens. Kaum ist die chinesische Hymne verklungen, klettert die Georgierin Nino Salukwadse über die Goldstufe der Siegerin Guo Wenju hinweg zu Natalja Paderina und umarmt die Russin. Die beiden tauschen Küsse aus.

Im Sport vereint: Die Georgierin Nino Salukwadse (re.) und die Russin Natalia Paderina. (Foto: Foto: AP)

Es ist die deutlichste politische Botschaft, die man sich denken kann bei den Olympischen Spielen - dargeboten an der exponiertesten Stelle, die es gibt: auf dem Siegerpodest, vor all den Kameras, die die Botschaft um die Welt schicken werden. Die Georgierin und die Russin haben trotzdem keine Intervention des IOC zu befürchten. IOC-Sprecherin Emmanuelle Moreau lobte den Auftritt sogar als "perfektes Beispiel, wie man Menschen zusammen bringt". Dabei hat das Internationale Olympische Komitee vor diesen Spielen eigens Richtlinien erlassen und jede politische Geste ausdrücklich verboten, so penibel, dass sogar Armbändchen mit der Aufschrift "Für eine friedliche Welt" untersagt wurden. Nun hat die Wirklichkeit das olympische Traumgespinst mit seinen wohlfeilen Regeln einfach ausgelöscht.

"Die Politik muss vom Sport lernen"

Russen und Georgier schießen in Südossetien aufeinander, Tausende Menschen sterben im Kaukasus - und natürlich dürfen diese beiden Frauen, deren Nationen im Krieg sind, hier demonstrativ für eine friedliche Welt stehen: Nino Salukwadse, 39, Psychologin aus Tiflis, und Natalja Paderina, 33, Soldatin aus Jekaterinenburg. "Sport ist Freundschaft", sagt die Georgierin wenig später in der Pressekonferenz, "das muss die Politik vom Sport endlich lernen. Wann, wenn nicht jetzt? Wir sind im 21.Jahrhundert!"

Es ist die letzte all der enormen Anstrengungen für Salukwadse an einem unglaublichen Tag. Wie oft in einem Menschenleben fällt größtes Glück mit größtem Unglück zusammen? Alle Konzentration hat sie in den Luftpistolen-Wettbewerb gelegt, mit der Waffe, die ihr schon vor 20 Jahren einmal olympisches Silber eintrug. Das war 1988 in Seoul - ein Lorbeerkranz mehr für die Sowjetunion, die der Genossin Salukwadse dafür einen vaterländischen Verdienstorden verlieh, kurz bevor sie unterging. Im Jahr 1993 erhielt Salukwadse dann das Ehrenabzeichen ihrer Heimat Georgien. Und nun schlagen diese Länder, die sie mehr als jeder andere Mensch bei den Spielen verkörpert, aufeinander ein.

An Sport denkt kaum noch einer in Georgiens Delegation, die bis zwei Uhr nachts mit ihren 35 Athleten, mitgereisten Regierungsleuten und IOC-Vertretern debattiert hatte: Rückzug oder Bleiben? Am schlimmsten sei die Angst um die Angehörigen, sagt Nino Salukwadse, "eine furchtbare Situation". Sie hat Mann und zwei Kinder in Tiflis, "jeder hier spürt, dass er zuhause gebraucht wird". Aber dann erhöhte Staatschef Michail Saakaschwili diesen Druck, indem er die Delegation zur Abreise aufforderte, Samstagabend sollte das bereits offiziell verkündet werden.

Am Ende trugen dann aber die Bemühungen der anderen Seite in Peking Früchte. IOC-Präsident Jacques Rogge konferierte Sonntagmorgen mit den NOK-Chefs von Russland und Georgien, man einigte sich auf Weitermachen. "Wir sind eng in Kontakt mit beiden Seiten", sagt ein hoher IOC-Offizieller, "wir wollen jede Eskalation vermeiden." Dass es ein Ritt auf der Rasierklinge wird, ist ihm klar. Aber das IOC unter Rogge fürchtet nichts mehr als eine politische Aussage in dieser explosiven Gemengelage: "Wir müssen Realist sein. Wenn wir uns einmischen, irgendeine Position einnehmen, sind die Spiele tot." Dann würde die betroffene Delegation abreisen, alles Weitere wäre nicht mehr kontrollierbar. Zumal reichlich Politiker aus allen Teilen der Welt in Peking weilen. Ob Russlands Premier Wladimir Putin US-Präsident George W. Bush während der Eröffnungsfeier signalisiert hat, dass sich am Kaukasus ein richtiger Krieg entwickelt?

"Kriege oder Tsunamis interessieren uns nicht"

Das IOC gibt sich ahnungslos. In der Eröffnungsnacht, heißt es, sei die Meldungslage zum Kaukasus nicht hart genug gewesen. Das hat sich inzwischen geändert, aber das IOC verbreitet weiter Beschwichtigungen. Eine Sprecherin verstieg sich gar in den Hinweis, die Winterspiele 2014 in Sotschi unweit der aktuellen Kriegsregion seien nach aktuellem Stand nicht gefährdet. Zugleich ist intern jedoch klar, dass die Entwicklung im angrenzenden Abchasien für den Standort Sotschi entscheidend sein wird. Spekuliert wird, dass die Region binnen sechs Monaten "unabhängig" von Georgien sein könnte. Damit wäre für Sotschi das Schlimmste abgewendet.

Russlands Vertreter geben sich derweil als Pokerspieler. "Wir alle denken nur daran, wie wir hier Gold, Silber oder Bronze gewinnen können. Kriege oder Tsunamis interessieren uns in den zwei Wochen nicht," sagte Delegationssprecher Gennadi Schewts. Das ist weit weg von den Appellen Salukwadses. Die hatte nach ihrem Bronze-Schuss einen Satz wiederholt, mit Wut in der Stimme: "Die Politiker müssen sich sofort hinsetzen und diesen Krieg beenden!" Vorerst ein Schuss ins Leere.

© SZ vom 11.08.2008 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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