Olympia in Vancouver:Kanadisches Wintermärchen

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Die kanadischen Sportler erfüllen die Erwartungen ihrer Fans nicht. Dennoch lassen sich die Kanadier von Olympia begeistern - aber dazu brauchen sie keine Hymne.

Michael Neudecker

Ohne den Kanadiern jetzt zu nahe treten zu wollen, aber es ist davon auszugehen, dass der Großteil der Bevölkerung ähnlich über Skeleton nachdenkt wie die meisten Deutschen: nämlich gar nicht. Als jedoch Jon Montgomery vor dem Eishockeyspiel der Kanadier gegen die USA via Videowürfel interviewt wurde, da tobten die 19.000 Zuschauer im Canada Hockey Place, als stünde da Wayne Gretzky, den sie in Kanada ja verehren wie einen Heiligen. Jon Montgomery blickte in das riesige Stadion, er wirkte ergriffen, irgendwie auch fassungslos.

Als Skeleton-Fahrer ist man eine derartige Begeisterung nicht gewöhnt, aber Jon Montgomery ist jetzt ein Held in Kanada: Er hat Gold gewonnen, und für die Kanadier ist jeder ihrer Goldmedaillengewinner ein Held, das ist hier nicht anders als in jedem anderen Land.

Das heißt, ein bisschen anders ist es schon: Es gibt nicht so viele Goldgewinner bei diesen Spielen, die aus Kanada kommen. Genau genommen nur fünf bislang, und das ist deutlich weniger, als sich die Kanadier erhofften, weshalb sie sich nun an jedes Gold klammern, das sie haben. "Own the Podium", so hieß das Förderprogramm für den nationalen Sport, das sich Kanada rund 82 Millionen Euro kosten ließ; der Plan war, 35 Medaillen zu holen. Sechs Tage vor Ende der Spiele sind es zehn Medaillen, der Plan ist nicht ganz aufgegangen. Aber was sind schon Zahlen im Medaillenspiegel im Vergleich zu einem Gefühl?

Der Kanadier ist eigentlich kein übermäßig patriotischer Mensch, im Gegensatz zum benachbarten Amerikaner zum Beispiel. Aber im Sport konzentriert sich jeder auf sein Land, das war in Deutschland 2006 so, und so ist das auch in Kanada 2010. Nach einer neuen Umfrage, die vom renommierten Meinungsforschungsunternehmen Harris/Decima im Auftrag der Canadian Press durchgeführt wurde, finden 77 Prozent der Kanadier, Olympia vereine das Land. 61 Prozent aus Québec finden das auch, das ist die interessantere Zahl - in Québec war nach der Eröffnungsfeier kritisiert worden, Französisch, die zweite Landessprache, sei da zu kurz gekommen.

Der Kanadier ist überhaupt ein kritischer Mensch, die englischsprachigen Kanadier hatten - zu Recht - die eigenartige Version der Hymne bemängelt, die von der American Idol-Sängerin Nikki Yanofsky sehr teeniehaft vorgetragen wurde. Einige Zeitungen stellten amüsiert fest, Yanofsky habe so sehr geschmachtet, als würde sie nicht nur Kanada lieben, sondern mit Kanada Liebe machen.

Dass Sport die Menschen vereint, ist nicht neu. Die Frage, die sich dann allerdings immer stellt, ist die, wie weit die nationale Begeisterung gehen kann, wie weit sie gehen darf, und wann die Grenze des Nationalstolzes erreicht ist. Die Kanadier sind in dieser Hinsicht, so sieht es bisher aus, unverdächtig.

Die Vancouver Sun, eine sehr kluge Zeitung, hat neulich ein Experiment durchgeführt: Ein Reporter hat sich aufgemacht, den Nationalstolz seiner Landsleute auf die Probe zu stellen. Die Aufgabe war simpel, er wollte ein paar Menschen auf der Straße dazu bringen, die Hymne "Oh Canada" zu singen (ohne dabei allerdings Nikki Yanofsky zum Vorbild zu nehmen).

Doch kaum einer folgte seiner Bitte, und als er schon beinahe frustriert aufgab, fand er doch noch im Zug eine Gruppe älterer und betrunkener und, wie er fand, sehr sympathischer Kanadier, die in ihrer nächtlichen Freude tatsächlich die Hymne anstimmten - woraufhin viele im Zug mitsangen und manche beschämt wegschauten. Der Reporter, der übrigens Pete McMartin heißt, schrieb, er sei berührt davon gewesen, das ganze Experiment habe ihn zu einer wunderbaren Feststellung gebracht. Die Kanadier liebten ihr Land, ja, sehr sogar, aber: "Ich glaube, dass wir glauben, Patriotismus hat seine Grenzen." Die Kanadier lassen sich von Olympia und sich selbst begeistern, aber dazu brauchen sie keine Hymne.

Der Kanadier ist begeisterungsfähig - und leidensfähig

Und wenn die Eishockeyspieler nicht noch alles falsch machen, dann ist davon auszugehen, dass die kanadische Euphorie über diese Spiele anhält. Auf den Straßen tanzen und singen sie, als gäbe es kein Morgen, sie feiern einfach gemeinsam das, was ihre Athleten erreichen, und wenn es weit davon entfernt ist, das Podium zu besitzen. Sie zahlen sogar Eintritt für die Medals Plaza.

Der Kanadier ist begeisterungsfähig, das haben diese Spiele bislang eindrucksvoll gezeigt. Und er ist leidensfähig: Er jubelt, auch wenn es regnet, so wie das anfangs permanent der Fall war. Und seit ein paar Tagen scheint nun auch noch die Sonne, sie taucht Vancouver und Whistler in ein wunderbares Gelb, so wunderbar, wie Gelb nur sein kann.

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