Kristina Vogel hat ein besonderes Verhältnis zu Schwarz, Rot und Gold. Zumindest bei Olympia. Bevor sie auf ihr Fahrrad steigt, lackiert sie sich die Fingernägel in den deutschen Farben. Sie legt Ohrringe an, auf denen sich ein roter Streifen zwischen einen schwarzen und einen gelben schmiegt. Und auch der Sattel, auf dem sie sitzt, ist kein einfarbiger Sattel. Er ist schwarz und rot und goldgelb.
Bei ihrem denkbar größten Erfolg, dem Olympia-Sieg im Bahnrad-Sprint der Frauen, flutschte Kristina Vogel der große Rückhalt allerdings unter dem Po weg. Im Wortsinn.
Als Vogel sich im zweiten und entscheidenden Duell mit der Britin Rebecca James auf der Ziellinie auf ihren Sattel zurückfallen ließ, flog der im weiten Bogen davon. Vogel dachte schon: "Oh nein, dann also nochmal." Aber es kam zu keinem dritten Vergleich (für den Sieg im Bahnrad-Sprint muss eine Fahrerin zwei Rennen gegen ihre Finalkonkurrentin gewinnen); Vogel hatte sich mit der Winzigkeit von vier Tausendstelsekunden gegen Rebecca James durchgesetzt. "Cool", freute sich Kristina Vogel daraufhin, "ich bin die erste Olympiasiegerin ohne Sattel."
"Bloß nicht runterfallen"
Das Teil ist beim Sprint durchaus von einer gewissen Bedeutung. Die Fahrerinnen zerren mit gewaltigen Kräften an ihren Rädern, auf der letzten der drei Runden, über die es geht, sind sie im Schnitt mit deutlich mehr als 60 km/h unterwegs. Bei so einer Geschwindigkeit darf nichts wackeln, auch nicht der Sattel.
Als Vogel im Ziel merkte, dass sie ohne ihn unterwegs war, hatte sie Mühe, sich überhaupt auf dem Rad zu halten. "Ich dachte erst einmal nur: Bloß nicht runterfallen", erzählte sie, als der erste Schreck der großen Freude gewichen war. Die Ehrenrunde absolvierte sie auf dem Sattelrohr sitzend. Das klappte.
Olympia:Sattel verloren, Gold gewonnen
Kristina Vogel unterläuft im Sprint auf der Bahn ein seltenes Missgeschick - trotzdem wird sie Olympiasiegerin.
"Noch nie" habe sie ein solches Problem erlebt, gab Vogel an. Nicht im Training und auch bei keinem anderen Wettkampf nicht. An dem Abend, an dem der Abschluss der Bahnrad-Wettbewerbe anstand, nach einem Halbfinale und einigen Ausscheidungsrunden aber hatte bereits beim ersten Versuch, das entscheidende Rennen zu starten, etwas nicht gestimmt. Bundestrainer Detlef Uibel brach den Start ab. Vogel rollte eine halbe Runde. Dann kam ihr ein Mechaniker zur Hilfe geeilt und richtete den Sattel in großer Eile. So zumindest sah es aus.
Trotz der Verzögerung behielt Vogel die Konzentration. Im ersten Durchgang hatte sie James in der finalen Runde aus dem Windschatten heraus erfolgreich attackiert und um 16 Tausendstelsekunden distanziert, den zweiten Durchgang bestritt sie von vorneweg von vorne - so, wie sie es am liebsten hat. "Ich war nie eine, die aufgibt", fasste sie im Ziel ihre Herangehensweise zusammen.
Vor mittlerweile sieben Jahre hatte sie einen schweren Unfall. Beim Radtraining wurde sie auf einer Straße von einem Zivilfahrzeug der Thüringer Polizei erfasst. Bei dem Sturz brach sie sich einen Brustwirbel und die Handwurzelknochen und verlor mehrere Zähne. "Zwei Tage im Koma, vier Wochen im Krankenhaus, drei Monate in der Reha": So fassten die Spiele-Veranstalter in Rio Vogels Leidenszeit lapidar in den Informationen für die übertragenden Sender zusammen.
Die Königin dieser Nacht
Unter Olympia-Erfolgen waren dort bis Dienstagabend für die 25-Jährige zwei Einträge vermerkt: Gold zusammen mit Miriam Welte im Team-Sprint bei den Spielen 2012 in London und Bronze mit der gleichen Partnerin in der gleichen Disziplin jetzt in Rio. Nun hat Kristina Vogel, die auch eine Fahnenträger-Kandidatin für das deutsche Team bei der Eröffnungsfeier gewesen war, ihre erste olympische Einzelmedaille gewonnen, "und das im Sprint, der Königsdisziplin, das macht mich so stolz", freute sie sich.
Kristina Vogel war fürwahr die Königin dieser Nacht. Auch wenn ihr Thron mehr als nur wackelte.