Zum Tod von Willi Holdorf:Der Mann, der zu Gold taumelte

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Willi Holdorf (mi.) wird Olympiasieger im Zehnkampf, muss aber nach dem 1500-Meter-Lauf gestützt werden (Foto: imago images/Horstmüller)

1964 kam Willi Holdorf halb bewusstlos ins Ziel und wurde erster deutscher Olympiasieger im Zehnkampf. Nun trauert der Sport um einen Mann mit vielseitigem Charakter.

Nachruf von Saskia Aleythe

Tokio war für ihn damals so weit weg wie der Mond. Wasserhähne, die ohne Hebel funktionieren, eine Sensation! In diesem Sommer wollte Willi Holdorf noch einmal in den Flieger steigen, 56 Jahre nachdem er selbst Gold im Nationalstadion gewonnen hatte, um Weltmeister Niklas Kaul in Japan bei der Medaillenjagd zu beobachten. "Diesem jungen Burschen beim Wettkampf zuzuschauen, ist ein Hochgenuss, so wie ein Drei- Sterne-Dinner", sagte Holdorf im Februar der Welt. Doch dann kam Corona und bald danach die Verlegung der Spiele.

Tokio 1964, das war eine Sternstunde des deutschen Zehnkampfes: Nach einem verblüffenden 1500-Meter-Lauf hatte Holdorf mit purem Willen nach der letzten Disziplin Gold erobert, die Beine konnten es nicht gewesen sein, so erschöpft taumelte der Athlet von einem Fuß auf den anderen und schließlich ins Ziel, wo ihn die Kollegen auffingen. Erster Olympiasieg eines deutschen Zehnkämpfers, nur Christian Schenk sollte 1988 noch einmal als Goldgewinner, diesmal für die DDR, triumphieren.

Am Sonntag ist Willi Holdorf im Alter von 80 Jahren gestorben. Eine Nachricht, die in der deutschen Sportszene große Betroffenheit auslöste. "Wenn man mit dem Zehnkampf beginnt, dann schwebte der Name Willi Holdorf über allen, die danach kamen", sagte Zehnkampf-Weltmeister Niklas Kaul bei Focus online; Frank Busemann, 1996 Olympia-Zweiter in Atlanta, sagte der Funke-Mediengruppe: "Er hat mit seinem Olympiasieg im Zehnkampf das geschafft, was alle wollen. Doch er ist immer Mensch geblieben, hatte immer einen Spruch auf den Lippen." Als Holdorf einmal gefragt wurde, wie er die Wechsel zwischen den Disziplinen hinbekäme, sagte er: "Ich trainiere wild durcheinander, das hilft am besten." In seinen Anfangsjahren benutzte er aus Mangel an Alternativen einen Speer als Latte beim Stabhochspringen und spießte sich beim Fallen den Oberarm auf. Irgendwann erinnerte nur noch eine Narbe daran.

Holdorf war auch Immobilien- und Sportartikelhändler, Schuhvertreter und Bobfahrer

Holdorf wuchs in einem Dorf nahe Glückstadt in Schleswig-Holstein auf, verausgabte sich beim Fuß- und Handball, versuchte sich aus Spaß bei einem 100-Meter-Wettkampf und wurde prompt Bezirksmeister. Einen Sprint-Lehrgang des deutschen Leichtathletik-Verbandes später nannte er sich mit 18 Jahren schließlich auch Zehnkämpfer und wechselte nach Leverkusen, wo erfolgreiche Zeiten auf ihn warteten. Bei den Spielen in Tokio schließlich machte zunächst der patzende Favorit Yang Chuan-Kwang den Weg Richtung Medaille frei, doch bis zur Ziellinie war der Kampf mit dem Esten Rein Aun die packendste Geschichte: Zwar lag Holdorf vor dem abschließenden Rennen vor seinem Konkurrenten, doch galt der als deutlich besserer Läufer. "In dem Augenblick, als ich auf die Zielgerade einbog, riss Aun im Ziel die Arme hoch. Da kriegst du ja doch ein bisschen Angst", sagte Holdorf später einmal - doch die Angst machte ihm Beine: Einen Rückstand von 18,5 Sekunden auf Aun hätte er sich maximal leisten können - am Ende schaffte es Holdorf auf elf Sekunden Rückstand und 7887 Punkte. Seine Trainingspartner Hans-Joachim Walde und Horst Beyer wurden Dritter und Sechster.

Der Gold-Wettkampf von Tokio war mit nur 24 Jahren der letzte von Holdorf, er hatte eine Familie zu ernähren, wurde Sportlehrer und feierte schon bald als Trainer Erfolge: Er betreute in Leverkusen etwa Claus Schiprowski, der 1968 in Mexiko Silber im Stabhochsprung gewann. Holdorf war auch Immobilien- und Sportartikelhändler, Schuhvertreter und Bobfahrer, 1974 schließlich für ein paar Monate Trainer des Bundesligisten Fortuna Köln. "Als ich Fortuna übernommen habe, war sie Tabellenletzter und am Ende Vorletzter. Das war nur ein kleiner Erfolg", meinte Holdorf. "Es hat aber Spaß gemacht." Der Spaß kam nicht zu kurz, und den hatte Holdorf auch beim Handball. 2005 wurde er in den Aufsichtsrat der Handball-Bundesliga berufen. Bei der 14. Meisterschaft des THW Kiel durfte er als Gesellschafter die Torte anschneiden.

"Die Begegnungen mit ihm waren immer bereichernd, sein norddeutscher Humor ansteckend und seine Geradlinigkeit sehr beeindruckend", sagte der Clemens Prokop, der ehemalige Präsident des deutschen Leichtathletik-Verbandes, der Deutschen Presseagentur. 2002 und 2009 erlitt Holdorf Schlaganfälle, bekam später drei Bypässe gelegt.

Einst, 1964 bei Olympia in Tokio, war die Kraft übrigens schnell zurückgekehrt, energisch sprang er bei der Siegerehrung aufs Treppchen. Es war rutschig, Holdorf kippte mit dem Oberkörper nach vorne, doch der 24-Jährige fand gerade noch das Gleichgewicht wieder, um aufrecht sein Gold in Empfang zu nehmen. Das war die Botschaft jener Tage: Schreibt den Holdorf nicht ab, auch wenn er wankt wie eine allein gelassene Marionette.

© SZ vom 07.07.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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