Naomi Osaka:Der Himmel über ihr

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Die Japanerin kam mit ihrer Rolle als globaler Sport-Star lange nicht klar - nach dem zweiten Triumph bei den US Open fühlt sich die 22-Jährige besser vorbereitet, ihre Stellung als politische Persönlichkeit auszufüllen.

Von Jürgen Schmieder, New York/Los Angeles

Fast 20 Sekunden lang lag Naomi Osaka nach ihrem Triumph bei den US Open auf dem Spielfeld im Arthur Ashe Stadium, die Japanerin starrte in den Himmel von New York, und sie wollte später trotz mehrmaliger Nachfrage nicht verraten, woran sie in diesem Moment gedacht hat: "Ich habe bei anderen Sportlern häufig gesehen, dass sie auf dem Platz zusammengebrochen sind und in den Himmel geschaut haben. Ich wollte schon immer wissen, was die da sehen. Es war wirklich ein unglaublicher Moment - ich bin froh, dass ich es getan habe."

Da lag sie also, 20 Sekunden lang, und es würde nicht verwundern, wenn sie in diesen 20 Sekunden all das sah, was sie in dieser Partie gegen die Belarussin Viktoria Asarenka erlebt hatte. Wie sie nach 1:6, 0:2-Rückstand noch mit 1:6, 6:3, 6:3 gewonnen hatte. Vielleicht sah sie auch, was sie in den vier Wochen in dieser Tennisblase von New York alles mitgemacht hat, von Einschränkungen wegen der Coronavirus-Pandemie über ihren Boykott des Halbfinals beim letzten Vorbereitungsturnier aus Protest gegen Rassismus und Polizeigewalt bis hin zur Oberschenkelverletzung: "Es gab ein paar schwierige Tage hier, weil man dazu neigt, zu viel nachzudenken."

Alles Gute kommt von oben: US-Open-Siegerin Naomi Osaka. (Foto: Danielle Parhizkaran/USA TODAY Sports/Reuters)

Vielleicht hat sie nun, auf dem Platz liegend, einfach nur die Ruhe genossen, die ihr seit dem letzten Sieg vor zwei Jahren nur selten gegönnt war. "Seitdem war mein Leben immer nur ,Los, Los, Los!'. Ich hatte keine Gelegenheit, es mal langsamer angehen zu lassen."

Vor zwei Jahren war alles, von Spiel-Ansetzungen bis zur Titelseite des Programmheftes am Finaltag, darauf ausgelegt gewesen, dass Serena Williams als Mutter ihren 24. Grand-Slam-Titel holen würde. Osaka sollte Nebendarstellerin sein, und sie wurde in der Tat an den Rand gedrängt, obwohl sie das Finale gewonnen hatte. Alle sprachen über Williams: ob die sich danebenbenommen hatte oder das Opfer von Rassismus und Sexismus geworden war. Ihr Streit mit dem Schiedsrichter war das Thema, die Zuschauer buhten während der Siegerehrung. Osaka, die Siegerin, stand im bis dahin größten Moment ihrer Karriere hilflos auf dem Platz und weinte.

Welcher Mensch könnte mit so einer Erfahrung umgehen, zumal im Alter von damals gerade einmal 20 Jahren? Osaka sagte am Samstag: "Ich bin damals nicht in der Lage gewesen, das zu verarbeiten."

Es folgten: der Sieg bei den Australian Open, der Aufstieg zur Nummer eins der Weltrangliste und später zur bestverdienenden Sportlerin der Welt. Es folgten aber auch: die Trennung von Trainer Sascha Bajin, erste Krisen wie zum Beispiel eine Niederlage in der ersten Runde von Wimbledon. Dort hängt über dem Eingang zum Centre Court bekanntlich ein Satz aus dem Gedicht "If" von Rudyard Kipling: "Wenn du Triumphen und Niederlagen begegnest, und mit beiden Blendern gleich umgehst." Noch mal: Wer kann das schon, zumal im Alter von 20 Jahren?

Kräftig beißen: Viktoria Asarenka tat sich schwer im Finale. (Foto: Matthew Stockman/AFP)

Das Gedicht ist vier Strophen lang, es handelt von Selbstvertrauen in Zeiten des Zweifels, vom Umgang mit Lügen, Hass und falschen Freunden, von Niederlagen und Neubeginn, von Äußerlichkeiten und von Schlaumeiern, von Untergebenen und Königen, von Gelassenheit, Risiken und Träumen. Das Gedicht, das jeder Sportler, vielleicht sogar jeder Mensch kennen sollte, endet damit, was jemanden erwartet, der mit alledem umgehen kann und Balance in seinem Leben erreicht: "Die Welt und alles, was sie enthält, gehört dann dir."

Es passierte extrem viel im Leben von Osaka in den vergangenen zwei Jahren, und es hätte in diesem Jahr noch viel mehr passieren sollen. Sie hätte das Gesicht der Olympischen Spiele in Tokio sein sollen, die Vermarktungsmaschine lief bereits, es war alles auf einen Triumph ausgelegt - und darauf, was ein Olympiasieg in der Heimat so mit sich bringt. Die Pause wegen der Pandemie gab Osaka die Ruhe, die sie dringend gebraucht hatte: "Ich konnte endlich mal über ein paar Dinge nachdenken: was ich in meinem Leben erreichen will, wofür ich in Erinnerung bleiben möchte." Sie arbeitete mit ihrem neuen Trainer Wim Fissette, ein statistikgetriebener Tennis-Wissenschaftler, jedoch weniger an ihren Waffen auf dem Platz als vielmehr daran, diese Waffen gewinnbringend einzusetzen und sich damit nicht selbst zu verletzen.

"Es gab nicht viel zu verbessern, die Grundlagen waren alle da", sagte Fissette vor dem Finale: "Es ging darum, die leichten Fehler abzustellen, die nicht auf schlechten Entscheidungen basierten, sondern auf schludriger Beinarbeit und technischer Ausführung eines Schlags." Also: diesen letzten Schritt zu machen, um perfekt zum Ball zu stehen und eine Vorhand auch wirklich konsequent durchzuziehen. Wenn man so will, dann war das Finale gegen Asarenka das Ergebnis dieser Zusammenarbeit. Osaka begann schludrig, es war schon in Ordnung, dass wegen der Coronavirus-Pandemie keine Zuschauer erlaubt waren im Arthur Ashe Stadium: Die in den ersten Reihen wären in Gefahr gewesen angesichts der wilden Grundschläge von Osaka.

"Es ging mir gar nicht mehr darum zu gewinnen", sagte sie später über den Rückstand: "Ich wollte mich nur nicht blamieren und in weniger als einer Stunde verlieren. Es ging eher darum, gut zu spielen und meiner Gegnerin einen Kampf zu liefern - irgendwie hat es dazu geführt, dass ich jetzt den Pokal in der Hand habe." Das Comeback lag auch daran, dass Asarenka nicht mehr außerweltlich gut spielte (im ersten Satz waren 94 Prozent der ersten Aufschläge im Feld, sie leistete sich nur drei leichte Fehler), vor allem aber lag es an Osaka: Sie behandelte die Krise in den ersten eineinhalb Sätzen ebenso gleichmütig wie die Euphorie beim Comeback, spielte die Partie geduldig zu Ende und gewann im Alter von 22 Jahren bereits ihren dritten Grand-Slam-Titel.

Naomi Osaka kam noch rechtzeitig in Fahrt. (Foto: Danielle Parhizkaran/USA TODAY Sports/Reuters)

"Meine Feier wird darin bestehen, dass ich versuchen werde, diesen Erfolg diesmal zu verarbeiten", sagte sie. Sie trug ein Trikot des verstorbenen Basketballspielers Kobe Bryant, dem sie beim Treffen vor ein paar Jahren mitgeteilt hatte, dass sie gerne so wäre wie er. Die Reaktion von Bryant: "Nein! Sei' besser." Er ahnte wohl, dass diese junge Frau es schaffen könnte, all die Anforderungen im Gedicht von Kipling zu erfüllen und dass die Welt dann ihr gehören würde. Vielleicht hat Osaka auch daran gedacht, als sie da so auf dem Platz lag und in den Himmel von New York starrte.

© SZ vom 14.09.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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