Moto GP:Das Feuer des Clowns

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"Ich vermisse einen Tisch", sagt Valentino Rossi auf seiner Abschiedspressekonferenz in Spielberg. Etwas zum Festhalten. (Foto: Manfred Binder/imago)

Nach 26 Jahren in der Motorrad-WM beendet der neunmalige Weltmeister Valentino Rossi, 42, Ende des Jahres seine Karriere. Er verlässt die Bühne als ein Riese, der stets verstanden hat, dass die größten Sportler auch großartige Geschichten erzählen müssen.

Von Philipp Schneider, Spielberg/München

Donnerstag, 5. August 2021. Valentino Rossi bittet die Welt zu sich. Was hat er vor, was will er sagen? Wenn Rossi einlädt, ist immer etwas Vorsicht angeraten.

Das war schon 1998 so, als ein damals 19-jähriger Wuschelkopf aus der Provinz Urbino und Pesaro den italienischen Fernsehsender RAI auf ein Farm lockte, wo die Reporter eine Dokumentation über die "Polleria Osvaldo" drehen wollten. Die Hähnchenfarm existierte nur in der Fantasie. Rossi, damals noch ein einmaliger Weltmeister, hatte einen Sponsor erfunden. Auf der Auslaufrunde nach einem Rennen in Barcelona packte er ein Maskottchen mit Aussehen und Form eines Huhns auf seine Aprilia; die Hühnerfarm, die es nicht gab, war plötzlich irre interessant. Und als die Leute vom Fernsehen den Hühnerbesitzer Osvaldo kennenlernen wollten, der nie geboren wurde, da suchte Rossi einen alten Hof, setzte Hühner aus, malte den Slogan "Jedes Hühnchen kennt Osvaldo" an die Wand und trieb einen alten Kauz aus seinem Heimatort Tavullia auf, der sich als Osvaldo ausgab. Die Dokumentation wurde ausgestrahlt. Und Rossi begriff, welche Kraft eine Illusion, eine gute Geschichte entfalten kann.

Jetzt aber, 23 Jahre später. Rossi hat kurzfristig geladen. Die Motorradzunft erwacht an diesem Wochenende beim Rennen in Spielberg aus dem Sommerschlaf, aber als die Mail zu Rossi eintrudelt, interessiert das keinen mehr. Im Internet drehen sie durch wie Hinterreifen. Hört er auf, fährt er weiter? Rossi erscheint. Ganz allein. Setzt sich auf einen Barhocker, den sie auf eine Bühne vor eine Werbewand mit dem Reifenmännchen geschoben haben, das immer so aussieht, als wäre es einen Tacken zu warm angezogen. Rossi aber schüttelt sich, als würde er frieren. "Ich vermisse einen Tisch", sagt er. Etwas zum Festhalten. Dann lacht er. Ist er tatsächlich unsicher? Rossi, der Showmaster?

"Es ist ein trauriger Moment für mich", er habe entschieden, dass diese seine letzte Saison in der MotoGP sein wird. Sein Leben werde sich nun kolossal ändern. "Ich bin jetzt seit mehr oder weniger 30 Jahren immer nur Motorradrennen gefahren!", Rossi lacht wieder, der Fakt ist ja auch irre. Aber allen im Publikum dämmert: Das ist keine Illusion. "Il Dottore", der Doktor, er steigt im Alter von 42 vom Zweirad, muss plötzlich neu laufen lernen, nachdem er sich allzeit an einem Lenker festhalten konnte.

Kann ein Rennen Freude bereiten, ohne dass irgendwo die Nummer 46 aufscheint?

Neun Weltmeistertitel hat Rossi gesammelt, davon sieben in der Königsklasse, der MotoGP. Dazu kommen 115 Grand-Prix-Siege, 235 Podestplätze, das bleibt für immer. Genau wie seine Rivalitäten, von denen er sich so viele geleistet hat, das sie für vier Karrieren reichen würden. Mit Max Biaggi, Sete Gibernau, Casey Stoner, Jorge Lorenzo, Marc Márquez. Der Motorsport ist ein globales Dorf, die MotoGP neben der Formel 1 das feinste Häuschen am Platz. Und natürlich gehen jetzt im Wirtshaus die Debatten los. Wer ist der Größte aller Zeiten? Michael Schumacher, Ayrton Senna, Lewis Hamilton - oder doch Rossi, dieser knochige Gigant?

Wenn Riesen wie Rossi aufhören, geht immer die Sorge um, gleich stürze das ganze Gerüst des Sports ein und begrabe im Staub die Hinterbliebenen. Dann aber kreist der Basketball auch ohne Michael Jordan, und anstelle des Größten aller Zeiten steigt plötzlich ein promovierter Ukrainer in den Boxring, und der Gong ertönt als sei nichts gewesen. Der Sport überhöht so schnell, wie er vergisst.

Nun also Rossi.

Kann ein Rennen Freude bereiten, ohne dass irgendwo die Nummer 46 aufscheint - und sei es ganz am Ende des Pulks, wie so oft in dieser Saison? "Überleg mal, was wäre, wenn ich niemals Motorradrennen gefahren wäre", mit diesem Gedanken schließt Rossi seine Autobiografie. Er hat sie 2005 verfasst. Damals war er 26 Jahre alt. Andere Karrieren beginnen da gerade. Rossi war schon zum siebten Mal Weltmeister, genau wie Schumacher am Ende seiner Raserei. Es ist ein selbstverliebte Frage, die beim Leser die Antwort hervorrufen soll: Selbstverständlich wäre die Welt eine andere! Stimmt vermutlich sogar.

Die ikonische "46": Valentino Rossis Startnummer ist weltweit bekannt. (Foto: Matthias Rietschel/Reuters)

Weil ja nicht jeder Motorradfreund regelmäßig ins Bücherregal greift, hat Rossi diesen Gedanken Jahre später ausgesprochen: "Ich denke, der Unterschied zwischen mir und all den anderen großartigen Fahrern der Geschichte besteht darin, dass ich aus irgendeinem Grund viele Leute dem Motorradrennsport näher bringen konnte." Das hat auch der Rennvermarkter Dorna begriffen, der sein Marketing mangels lässiger Typen im Fahrerlager längst auf den Slogan getrimmt hat: Schaltet ein wegen Rossi, auch wenn er langsam ist! Weil Rossi immer geliefert hat. Bilder für die Show. Einmal hatte er auf seiner Ehrenrunde eine Sexpuppe dabei. Aufs Podium stieg er verkleidet als Astronaut oder Sträfling. Einmal auch als Arzt, der zuvor mit dem Stethoskop sein Motorrad darauf abgehorcht hatte, ob noch alle Zylinder klappern. Das war alles ein bisschen Bud-Spencer-Humor. Aber immerhin Humor.

Feuer und Furor: Auch das ist Rossi

Zwei Dinge trage er gedanklich noch mit sich herum, sagte Rossi in Spielberg. Einmal die Jahre auf Ducati, als 2011 und 2012 aus der vermeintlichen Traumehe zwischen italienischem Fahrer und Rennstall kein einziger Sieg hervorging. Und dann die WM 2015, als Rossi zum Opfer einer Intrige der Spanier Lorenzo und Márquez wurde, so sieht er das noch immer. Im letzten Rennen der Saison war Rossi darauf angewiesen, dass sein WM-Rivale Lorenzo noch vor dem Ziel von Márquez überholt worden wäre. Der hatte aber keine Lust, weil ihn Rossi im vorletzten Rennen mit einem gezielten Tritt bei Höchstgeschwindigkeit ins Kiesbett befördert hatte. Lorenzo gewann das Rennen, Rossi verpasste haarscharf seinen zehnten WM-Titel. Und wenn man so will, wurde er zum Opfer derselben Leidenschaft, mit der er schon in jungen Jahren seinem Konkurrenten Biaggi auf der Siegerehrung einen Schlag ins Gesicht verpasste. Feuer und Furor, auch das ist Rossi, der Clown.

In dieser Saison haben sie den Dottore bei Yamaha aus dem Werksteam abgeschoben auf ein Kundenmotorrad, auf dem Rossi hinterherknatterte wie nie. Kommt sein Rücktritt zu spät? Er werde erst aufhören, wenn er "endlich ruhiger" sei, hat Rossi immer betont. Wenn er nicht mehr das Gefühl habe, etwas bereuen zu müssen. Als der Beste zu gehen wie Schumacher 2006 bei Ferrari, um dann doch noch einmal wiederzukommen, das wäre nichts für ihn gewesen, hat Rossi erklärt. Wer zieht denn schon vorsorglich im September Winterreifen aufs Auto und stellt dann Ende Dezember fest, dass es überhaupt nicht kalt geworden ist? Also ist Rossi immer weitergefahren auf seinen Reifen, als würde der Sommer seines Lebens nie ein Ende nehmen. So lang, bis er nun wirklich nicht mehr weiterfahren konnte, weil er auf der lausigen Yamaha mit beiden Reifen festhängt im tiefen Schnee.

Er hätte auch noch ein Jahr dranhängen können. In seinem eigenen MotoGP-Rennstall "VR46", der 2022 an den Start geht, wäre neben seinem Halbbruder Luca Marini ein Motorrad frei gewesen. "Ja, ich hatte auch von meinem eigenen Team ein Angebot", hat Rossi in Spielberg gewitzelt. Aber mit 42 noch mal den Rennstall wechseln? Ohne realistische Aussicht, den ersehnten zehnten Pokal zu stemmen? Das ist selbst Rossi zu abenteuerlich.

Er denke, er habe "die Leute am Sonntagnachmittag ganz gut unterhalten", sagt Rossi in Spielberg. Niemand wird das bestreiten. Zehn Rennen noch, dann macht die Polleria Osvaldo endgültig zu.

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