Medaillengewinner:Kuhglocken in Katar

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Ein Mechaniker in der Sprintelite, Reggae-Klang beim Diskuswerfen: Die Leichtathletik zeigt sich als immer globaleres Schauspiel.

Von Saskia Aleythe und Johannes Knuth, Doha

Julius Yego ist in Doha auch wieder dabei, er ist gewissermaßen einer der Gründerväter dieses Trends. Er war einst, im Gegensatz zu seinen vielen Landsmännern, nicht Läufer geworden, er wollte speerwerfen. Und weil die Arbeitsbedingungen für Speerwerfer in Kenia, nun ja, ausbaufähig waren, studierte Yego eben das, was ihm zur Verfügung stand: Er spielte sich immer wieder Youtube-Videos der damaligen Branchenführer vor, Andreas Thorkildsen, Jan Zelezny, Tero Pitkämäki. 2012 in London startete er als erster kenianischer Speerwerfer überhaupt bei Olympia, bei der WM vor vier Jahren in Peking gewann er mit 92,72 Metern. Dann wurde es also ruhiger, zuletzt warf Yego aber schon wieder 87 Meter, er wird es den hochgehandelten deutschen Speerwerfern am Wochenende nicht leicht machen. Und steht mit seiner Youtube-Geschichte auch für eine immer globalere Leichtathletik, die bei den Weltmeisterschaften in Doha wieder zu besichtigen ist. Man rechne, dass "bis zu 50 Nationen hier medaillenbefähigt sind", sagte der deutsche Generaldirektor Idriss Gonschinska: "So viele sind in anderen Sportarten nicht mal dabei." Sechs Fallbeispiele.

Schweizer Explosion

Die Schweizerin Mujinga Kambundji trumpfte über 200 Meter mit Bronze auf. (Foto: Kai Pfaffenbach/Reuters)

Die Kuhglocken bimmelten in Katar und da wusste man: Die Schweiz ist da. Freunde und Familienmitglieder von Mujinga Kambundji tobten auf der Tribüne des Khalifa-Stadions, während die 27-Jährige noch gebannt auf die Leinwand schaute: Schon wieder Vierte? Bei der EM im Vorjahr war sie gleich drei Mal knapp am Podest gescheitert, Platz vier über 100 Meter, 200 Meter und mit der Staffel. Fünf Hundertstelsekunden trennten sie jeweils nur vom großen Glück. Doch diesmal lief Kambundji dem Pech davon und sicherte der Schweiz die erste WM-Medaille über 200 Meter überhaupt. In 22,51 Sekunden kam sie hinter der Britin Dina Asher-Smith (21,88) und Brittany Brown (22,22) aus den USA ins Ziel. "Es ist eine Explosion der Gefühle", sagte sie im Überschwang, "ich könnte gleich noch mal rennen, ich wäre bereit!" Die Tochter eines Kongolesen und einer Schweizerin trainierte einst vier Jahre lang unter Valerij Bauer in Mannheim, 2016 gewann sie EM-Bronze in Amsterdam. In Doha konterte sie nun ihrem Schicksal: Das Finale über 100 Meter hatte sie noch verpasst. Um 0,001 Sekunden.

Australischer Langstreckenflug

Fassungslos vor Glück: Mit dem allerletzten Versuch errang Kelsey-Lee Barber aus Australien Gold im Speerwerfen. (Foto: Martin Meissner/AP)

Australier mit großem Bewegungsdrang halten sich eher in einem Schwimmbecken auf, auf eine Speerwurfanlage verirren sich nicht viele. Kelsey-Lee Barber gehört somit zu einem erlesenen Kreis, seit Dienstag ohnehin: Nur fünf Australierinnen eroberten vor ihr bei einer Leichtathletik-WM Gold. Dabei sah es in Doha nicht unbedingt gut aus, bis zum letzten Versuch lag sie auf Rang vier. Doch dann verlängerte sie ihren Anlauf, gab sich ein wenig mehr Platz zum Ausholen - und setzte einen Wurf ab, der in einen Langstreckenflug mündete, auf 66,56 Meter. Die Deutsche Christin Hussong, die bis dahin auf einem Medaillenrang gelegen hatte, verbesserte sich noch mal auf 65,21 Meter, rutschte am Ende aber trotzdem auf Rang vier hinter Chinas Lui Shiying (65,88 Meter) und Lyu Huihui (65,49). Und zu einem kleinen Teil steckte in Barbers Medaille auch ein anderes Stück der Welt: Die 28-Jährige, geborene Roberts, kam in Südafrika zur Welt; ihre Eltern siedelten nach Australien über, als sie neun Jahre alt war.

Schwedischer Salto

Man muss nicht immer Gold gewinnen, um eine gute Geschichten zu liefern: Stabhochspringer Armand Duplantis begeisterte als Silber-Gewinner. (Foto: Hassan Ammar/AP)

Im August war Armand "Mondo" Duplantis kurz in Stockholm, um an einem traditionsreichen Meeting teilzunehmen. Und die Latte fiel da zum ersten Mal runter: Bei 6,07 Metern. Da stand er schon längst als Sieger fest, bei 5,56 Meter hatte sich der letzte Konkurrent verabschiedet. Mit Schweden hat Duplantis sonst nicht allzu viel zu tun, er startet zwar für das Geburtsland seiner Mutter, ist aber durch und durch Amerikaner. Und derzeit das wohl größte Talent seines Sports. Der 19-Jährige erlebte in Doha seine zweite WM und sprang gleich zu Silber, nach EM-Gold im Vorjahr. Es war ein hochklassiger Wettbewerb, Sam Kendricks aus den USA gewann mit 5,97 Metern und weniger Fehlversuchen als Duplantis, der Pole Piotr Lisek sicherte sich Bronze. Am Ende machten die drei zusammen auf der Matte einen Rückwärtssalto. "Armand ist unglaublich talentiert", sagte Kendricks später, "er ist nicht erst 19. Er ist 19 mit der Erfahrung von zehn Jahren Stabhochsprung". Kein Wunder: Die Eltern hatten Duplantis in seiner Kindheit eine kleine Sprunganlage in den heimischen Garten gebaut.

Feinmechanik aus Ecuador

Das ist mein Land! Alex Quinonez aus Ecuador feiert seinen überraschenden dritten Platz im 200-Meter-Rennen. (Foto: Alexander Hassenstein/Getty)

Wenn in Doha die Leichtathleten aus Ecuador zusammenkommen, bildet sich eine recht überschaubare Gruppe: Elf Athleten sind am Start. Alex Quinonez ist der einzige Sprinter, seine Kollegen vor allem im Marathon und Gehen unterwegs, er ist der Exot unter den Exoten - und seit Dienstagabend der Einzige mit einer Medaille. Über 200 Meter lief Quinonez in 19,98 Sekunden hinter dem Amerikaner Noah Lyles (19,83 Sekunden) und Andre De Grasse (19,95) aus Kanada überraschend als Dritter ins Ziel. "Ich bin stolz, dass ich etwas Großes erreicht habe, was eine Inspiration sein wird für die Kinder in meinem Land", sagte Quinonez auf dem Pressepodium und sendete auch warme Worte an seine Kollegen: "Ich bin stolz, neben solchen großartigen Athleten sitzen zu dürfen." Drei Medaillen hatte der Kanadier De Grasse ja allein bei Olympia in Rio gewonnen, und dieser Noah Lyles gilt als Zukunft seines Sports. Quinonez? Hatte mit dem Sport eigentlich schon abgeschlossen. Nach einem siebten Platz bei den Spielen in London 2012 arbeitete der heute 30-Jährige als Mechaniker in der Heimat und konzentrierte sich nicht mehr aufs Sprinten. Doch irgendwann kehrte die Leidenschaft zurück. Und jetzt kam auch der Erfolg.

Diskuswurf mit Reggae

Jamaikas Federick Dacres bot im Diskuswurf einen großen Wettkampf - Silber gab's als Belohnung. (Foto: Kirill Kudryavtsev/AFP)

Wer ihm zuhört, hat das gleich im Kopf: Sandstrand, Reggae-Beats, Spaßsprinter, die über 100 Meter der Konkurrenz davonpreschen. Aber klar, Jamaika exportiert längst nicht nur Lässigkeit. Zum einen geht es dem Land wirtschaftlich lange nicht so gut, wie es seine Sprinter immer wieder suggeriert haben. Zum anderen, sagte Fedrick Dacres, als er zu Beginn der WM-Woche in Doha mit diesem herrlich rollenden Akzent erzählte, gebe es in Jamaika nicht nur talentierte Sprinter. "Wir haben auch gute Stabhochspringer. Und natürlich viele gute Werfer. Ich denke, dass das eine große Inspiration für sie ist, den nächsten Schritt zu tun", sagte der 25 Jahre alte Diskuswerfer, Bestweite 70,78, der mit Silber gerade seine erste WM-Medaille gewonnen hatte. Hinter dem Schweden Daniel Stahl und vor Österreichs Lukas Weißhaidinger übrigens. Schweden, Jamaika, Österreich - nicht die klassischen Werfernationen. Stimmt, sagte Stahl, "wir müssen alle etwas härter arbeiten und mehr an uns glauben." Aber man habe viel Spaß zusammen, das sei auch ein Schlüssel. Stahl war nach dem Finale, wie zum Beweis, spontan über die Hürden auf der Gegengerade gelaufen. "Ich wollte zeigen", sagte er, "dass wir schweren Jungs das auch können."

Zu Hause ist es am schönsten

Ihre Geschichte, sagte Marie Josée Ta Lou, kenne in Afrika mittlerweile im Grunde jeder. Aber zur Sicherheit erzählte sie sie in Doha noch einmal: Wie sie auf dem ganzen Globus vier WM-Medaillen gewann, darunter Bronze im Finale über 100 Meter in Doha, sie verließ in all den Jahren aber nie ihre Trainingsbasis in der Elfenbeinküste - während die weltbesten Sprinter lieber in Florida oder im südlichen Europa trainieren, wo die Wärme die Sprintermuskeln noch mehr umschmeichelt. "Ich wollte Afrikaner immer stolz machen", sagte Ta Lou in Doha, "von daher habe ich entschlossen, dass ich in Afrika bleibe." Sie habe dort ja alles, gutes Wetter, gutes Essen, die Familie. "Und wenn die Leute mich jetzt sehen, glauben sie, dass sie das auch schaffen können." Globaler Erfolg findet sich manchmal eben auch: zu Hause.

© SZ vom 04.10.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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