Marcel Nguyen bei der Turn-EM:Heute Haching, morgen Hongkong

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Medaillenkandidat am Barren bei der Turn-EM: Marcel Nguyen (hier an den Ringen) (Foto: dpa)

Der Turner Marcel Nguyen, Medaillenkandidat bei der Turn-EM in Sofia, führt seit einiger Zeit zwei Leben. Ein eher unauffälliges in Deutschland. Und ein unfreiwillig glamouröses in Asien.

Von Volker Kreisl, München/Sofia

Pflaster hilft nicht. Marcel Nguyen lächelt nur müde. "Nee", sagt er, "ein Pflaster ist gleich ab." Das weiße Pulver nimmt er eh, aber Magnesia dient zur Vorbeugung, nicht, wenn es schon passiert ist. Honig auch. Honig macht die Holme geschmeidig, vor allem gemischt mit Zuckerwasser. Aber Honig und Zuckerwasser sind auch nur Prophylaxe. Vielleicht Bepanthen. Abends auf die Wunde, nachts hoffen, aber tagsüber hat Nguyen deshalb auch nur kurzzeitig Ruhe.

Es ist wieder Barren-Zeit. Die Übungen werden neu einstudiert. Einen Lederschutz für die Haut - wie am Reck - gibt es nicht, manche Handflächen sind gerissen und entzündet. Und betroffen sind vor allem Turner wie der Unterhachinger Marcel Nguyen. Solche, die den Barren über alles lieben, immer wieder Neues ausprobieren, um die Konkurrenz abzuhängen, die besonders viel Zeit an den dicken Holzholmen verbringen, die an diesem Gerät Medaillen gewinnen, zum Beispiel Olympia-Silber, wie Nguyen in London 2012, und die zu trockenen Händen neigen.

Dabei hat Nguyen inzwischen gelernt, Auszeiten zu nehmen. Seit London hat sich sein Alltag geradezu erneuert. Er hat jetzt ein zweites, fast schon glamouröses Leben, und das spielt in Asien. Seit Olympia hat er dort eine riesige Anhängerschar hinzu gewonnen. Er hat dort Werbetermine, präsentiert Porsches in Peking, ist bei Fashion-Shows in Hongkong. Nur, sein erstes Leben geht nebenbei auch weiter, diese Woche steht mit der EM in Sofia der nächste Höhepunkt an. Und in seinem ersten Leben hat er mal wieder einen entzündeten Hautriss, diesmal rechts, mal nicht in einer der langen Falten der Handfläche, sondern in der Spalte zwischen Ring- und Mittelfinger.

Einfach nur fokussiert

Aber Nguyen will nicht klagen. Er war immer einer, der knapp antwortete, früher sogar sehr knapp ("Ja", "Nein", "Keine Ahnung"), der weitere Einblicke nur auf hartnäckiges Bohren preisgab. Das wirkte nie herablassend, Nguyen ist einfach nur fokussiert auf das, was gerade ist. Manche Athleten können genau deshalb mit viel Disziplin einen Trainingsplan durchziehen - im abschließenden Testwettkampf in Kienbaum hat Nguyen seine neue Barrenübung jedenfalls ordentlich absolviert.

Die zweite Felge, die er noch eingebaut hat, gelang, sogar seinen Parade-Abgang, den Doppelsalto rückwärts mit halber Drehung, brachte er in den Stand. Damit hat er einen Ausgangswert von 7,1 Punkten, den er unter Umständen noch auf 7,3 aufstocken kann. Sein Trainer Valeri Belenki bleibt zwar vorsichtig, weil man nie genau weiß, wie fleißig die anderen sind, aber schon die 7,1 ist derzeit wohl Weltspitze.

Barren. Schon das Wort klingt nach Schmerz, da braucht man gar nicht die Bilder von Bizepsen anzuschauen, die aus einem Meter Höhe nach einem Salto auf die Holme prallen. Womöglich fällt einem die Tortur aber leichter, wenn man, wie Nguyen, ein zweites Leben hat. Eines noch dazu, das sich plötzlich ergab, als hätte sich eine Tür bei Zugluft geöffnet.

Es begann in London. Mit seiner anderen Medaille, der im Mehrkampf, hatte Nguyen für besonderes Aufsehen gesorgt, obwohl es auch nur Silber war. Gold war ohnehin nicht drin, Mehrkampf-Gold holt seit Jahren der stille und perfekte Japaner Kohei Uchimura, immer mit rund zwei Punkten Vorsprung und ohne Fehler. So absehbar ist Uchimuras Hauptrolle, dass sie schon fast zur Nebenrolle wird. In London jedenfalls hatten viele mehr auf den Kampf um Silber geachtet, und da war plötzlich dieser vietnamesisch-stämmige Hachinger dabei, der früher schon mal mit Irokesenschnitt Barren geturnt hatte und jetzt diesen überbordenden Schriftzug auf der Haut trug, den sein Turn-Dress nicht ganz verdecken konnte. "Pain Is Temporary, Pride Is Forever", sagte das Tattoo: Schmerz vergeht, Stolz bleibt für immer.

In London hatte sich Nguyen immer mehr asiatischen Kamerateams gegenübergesehen. "Ich weiß auch nicht genau, warum sie mich interessant fanden", sagt er, aber es ist ja auch egal. Nguyen fiel auf, weil er irgendwie anders war. Er sprach inzwischen etwas ausführlicher, aber immer noch zeitsparend. Womöglich war er gerade deshalb beliebt, weil er sich zwar knapp gab, aber gewinnbringend lächelte, und dann hatte er plötzlich fast 100.000 Facebook-Freunde.

Im März 2013 gewann er in Tokio den Mehrkampf-Grand-Prix, es folgten Auftritte in Hongkong, schließlich vertraute er das Asien-Geschäft einer dortigen Agentur an. Im Winter lebte und trainierte Nguyen dann in Hongkong. "Ich wollte schon immer mal weg", sagt er, gebracht habe das Ganze nach fünf Monaten aber die Erkenntnis: "Zu Hause gefällt es mir eigentlich ganz gut."

Sein Zuhause, das sind Unterhaching, Stuttgart und der Barren. In Unterhaching ist das Elternhaus, in Stuttgart das Trainingszentrum. Der Barren ist der Schmerz und der Stolz. Nguyen ist nun 26, er hat sich wieder an die Arbeit gemacht, und er braucht viel Motivation, wenn er in den kommenden Jahren beides unter einen Hut bringen will - die Vermarktung in Fernost und täglich sechs bis acht Stunden Hallentraining. Hongkong, sagt Belenki, "kann ihm keiner verbieten, er muss aber selber merken, wenn es wieder um die Wurst geht." Nguyen macht sich da keine Sorgen, er sagt: "Die Zusammenarbeit mit dem Bundestrainer und dem Sportdirektor ist bestens."

Am Donnerstag, dem Tag der Qualifikation zu den EM-Entscheidungen, geht es in Sofia wieder um die Wurst. Nguyen will alles geben, auch wenn er sich gleich bei der ersten Barren-Einheit am Montag seine gerade erst verheilte Wunde wieder aufgescheuert hat. Jetzt hat er drei Tage lang eine Spezialsalbe drauf. Man soll nie aufgeben. Pflaster sind vergänglich, die Hoffnung bleibt für immer.

© SZ vom 21.05.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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