Marcel Kittel:Im Rausch

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Kragen sitzt: Marcel Kittel fühlt sich wohl im Grünen Trikot des punktbesten Fahrers. Während der laufenden Ausgabe der Tour de France gewann er bereits drei Etappen. (Foto: Bryn Lennon/Getty Images)

Vier Sprints, drei Siege: Marcel Kittel ist nur noch einen Sieg davon entfernt, zum erfolgreichsten deutschen Etappensieger bei der Tour de France aufzusteigen - auch, weil er ein Gespür für den richtigen Moment entwickelt hat.

Von Johannes Knuth, Nuits-Saint-Georges/Les Russes

Diesmal ein Hotel in Dracy-Le-Fort, mit Garten, Pool, einer Karte mit erlesenen Rotweinen, für die die Region Burgund bekannt ist. Die Szenerie war also eine andere, als der Radprofi Marcel Kittel und seine Quickstep-Floors-Auswahl am Freitagabend ihr Quartier für die Nacht bezogen. Das Protokoll aber war weitgehend bekannt: Wieder hatte Kittel am Nachmittag eine Etappe im Sprint gewonnen, wieder rief der 29-Jährige seine Teamkollegen im Hotel zu einem kleinen Umtrunk, wieder gab es Champagner, bereits zum dritten Mal bei dieser 104. Tour de France.

Am Wochenende ging es erstmals richtig in die Berge - der Franzose Lilian Calmejane gewann am Samstag die erste Prüfung im Jura-Gebirge, am Sonntag sind der Gesamtführende Christopher Froome und seine Verfolger gefordert -, am kommenden Dienstag steigt die Tour aber schon wieder in die Ebene herab. Und es wäre keine ganz blöde Idee, wenn Kittels Teamhotels für die kommende Woche schon mal ein paar Flaschen von dem edlen Tropfen ordern. Nach dieser ersten Woche.

Die siebte Etappe am Freitag in Nuits-Saint-Georges war ja in etwa so verlaufen wie die sechste am Tag davor: Ein paar Ausreißer versuchten ihr Glück, die Teams der Sprinter fingen sie wieder ein, vor allem Kittels Teamkollege Julien Vermote machte sich um die Nachführarbeit verdient. Sie zogen Kittel dann hervorragend in den letzten Kilometer, der Arnstädter ließ sich etwas zurückfallen, und das hätte ihm beinahe den Sieg gekostet: Denn als Kittel mit den Sprintern aus der letzten Kurve bog, waren nur noch 120 Meter zu absolvieren - nicht 200, wie Kittel dachte. Am Ende schob er sich aber doch noch am Norweger Edvald Boasson Hagen vorbei. "Das war definitiv der knappste Sieg meiner Karriere", sagte Kittel, nachdem er das Zielfoto studiert hatte. Sechs Millimeter bzw. 0,0003 Sekunden trennten zwischen Sieg und Niederlage, nach 213 Kilometern Anfahrt.

"Er kann gerade immer noch einmal zulegen, mehr denn je zuvor"

Die Sprints bei der Tour wurden in den vergangenen Jahren meistens von einem Fahrer regiert: 2013 und 2014 war es Kittel, 2015 der Rostocker André Greipel, 2016 Mark Cavendish von der Isle of Man - und 2017 ist offenkundig wieder das Jahr des "Möbelpackers" ( L'Équipe) aus Arnstadt. Der 29-Jährige egalisierte am Freitag Erik Zabels Rekord für meiste deutschen Etappensiege bei der Tour (zwölf), nebenbei übernahm er auch wieder das Grüne Trikot des Punktbesten, das er nach Peter Sagans Ausschluss durchaus bis Paris behaupten könnte. Kittel müsste dafür nur einige der fünf flachen Ankünfte in den kommenden Wochen so gestalten wie zuletzt. Was dafür spricht? Wenn man dem 29-Jährigen glaubt, dann rühren die immergleichen Erfolge auch daher, dass er in diesem Jahr seine Herangehensweise ein wenig geändert hat.

Kittel war vor zwei Jahren kurz aus der Weltspitze gefallen, eine Viruserkrankung suchte ihn heim, sein damaliges Team Giant-Alpecin nominierte ihn nicht für die Tour. Erst 2016 lief es wieder besser, mit Quickstep. Aber da war noch dieser Cavendish. "Wenn wir uns die Sprints der vergangenen Jahre anschauen, war ich oft ein bisschen zu früh dran und wurde von Mark Cavendish überholt", sagt Kittel, "das zeigt, wie wichtig es ist, das richtige Timing zu haben." In Troyes hing er zunächst bewusst hinter der Spitze, denn die Zielgerade war lang und flach, und wenn Kittel eines mag, dann sind es lange, flache Ankünfte. Am Tag darauf verstieß er ein wenig gegen sein Gebot vom Vortag, er klemmte sich dichter hinter die Führenden - mit Erfolg. "Es ist sehr schwer, in einem Sprint jedes Mal das Gleiche zu tun", sagte er danach, "es geht nicht nur um die Kraft deines Teams, sondern auch darum, im richtigen Moment am richtigen Rad zu sein. Das macht auch den Unterschied zwischen den guten und sehr guten Sprintern." Kittels Teamchef Patrick Léfèvre ergänzte: "Mit dem Selbstvertrauen, das er gerade hat, traut er sich auch mal in eine scheinbar aussichtslose Situation. Er kann gerade immer noch einmal zulegen, mehr denn je zuvor."

Kittel wird von Katusha-Alpecin umworben

Für den 62 Jahre alten Belgier steckt darin auch eine weniger gute Nachricht. "Er ist jetzt zu teuer. Ich kann ihn nicht mehr bezahlen", scherzte Léfèvre. Wobei Kittels Vertrag tatsächlich ausläuft, und die Tour bildet nicht nur den Höhepunkt der Saison, sondern auch den des Transfermarktes. Léfèvre war zuletzt damit beschäftigt, mit Sponsoren zu verhandeln und die Zukunft seines Teams zu sichern - damit er überhaupt die Verträge seiner Fahrer erneuen kann. Kittel wird laut dem Portal Cycling Weekly allerdings auch heftig von Katusha-Alpecin umworben; das Team gab sich nach diversen Dopingfällen in den Vorjahren zuletzt einen frischen Anstrich: mit einem deutschem Co-Sponsor, der Verpflichtung von Zeitfahr-Weltmeister Tony Martin und einer Schweizer Lizenz. Katushas derzeit bester Sprinter Alexander Kristoff könnte das Team zudem im Winter verlassen. Und bei Quick-Step drängelt der hochbegabte Sprinter Fernando Gaviria, 22, ins Licht. Man verhandle noch, sagt Kittel. "Derzeit gibt es da nichts zu sagen."

Etwas ausführlicher bezog er dann noch einmal zu Zabels Rekord Stellung, den er am Dienstag überbieten könnte: "Ich konzentriere mich auf meinen Job, die Siege, das Teamwork", sagte Kittel. "Das alles gibt mir unheimlich viel Freude, all das, was meinen Sport umgibt. Ich fahre nicht, um Rekorde zu erreichen." Schon eher für den einen oder anderen Umtrunk im nächsten Teamhotel.

© SZ vom 09.07.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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