Zum Tod von Ludger Schulze:Er hat den Ton gesetzt

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Ein Journalistenleben im Dienste des SZ-Sports: Ludger Schulze (vorne) mit Laudator Jupp Heynckes bei der Ehrung für sein Lebenswerk. (Foto: Thomas Metelmann/VDS)

Ludger Schulze konnte über Sport schreiben wie kaum ein Zweiter - aber das ist nur ein Vermächtnis von vielen. Ohne ihn wäre die Sportredaktion der SZ nicht, was sie heute ist.

Nachruf von Claudio Catuogno und Klaus Hoeltzenbein

Die Rollen sind in der Regel klar verteilt, und das ist gut so. Die Sportlerinnen und Sportler stemmen Pokale in die Höhe - die Journalisten kommentieren leidenschaftlich und streng, ob es auch die richtigen sind, die sich dort im Silberglanz bestätigt fühlen dürfen. Selten, dass diese Rollen einmal getauscht werden. Deshalb war es etwas sehr Besonderes, ausgerechnet den Fußballtrainer Jupp Heynckes im März 2017 am Mikrofon eines Hamburger Hotels sagen zu hören: "Wir brauchen in dieser so schnelllebigen Zeit einen kritischen, unabhängigen, nachdenklichen Journalismus, der den Menschen hilft, die Ereignisse einzuordnen."

Eine unerwartet deutliche Botschaft, zumal aus seinem Munde, wie Heynckes geständnisgleich zugab. Niemals habe er sich in den Anfängen seiner Trainerlaufbahn, die ihn zu Champions-League-Siegen mit Real Madrid (1998) und dem FC Bayern (2013) führen sollte, vorstellen können, "einmal eine Laudatio auf einen Journalisten zu halten". Erst im Laufe der Jahre, sagte Heynckes, "bin ich allmählich zu der Erkenntnis gelangt, dass Journalisten auch nur Menschen sind".

Erleichterter Applaus aller Anwesenden, zumal in der Mehrheit der behandelten Berufsgruppe zugehörig.

Aus der Redaktion
:SZ trauert um Ludger Schulze

Der langjährige Sportchef der "Süddeutschen Zeitung" ist im Alter von 72 Jahren gestorben.

Die Laudatio galt einem Mann, der aus Heynckes, dem Journalistenschreck, über Jahrzehnte fast schon einen Journalistenversteher hatte werden lassen. "Gegenseitiger Respekt", so Heynckes, sei immer "eine belastbare Grundlage" gewesen für den beruflichen Umgang zwischen ihm und Ludger Schulze, der an jenem Hamburger Abend vom Verband Deutscher Sportjournalisten (VDS) für sein Lebenswerk geehrt wurde. Ja, so etwas gibt es nicht nur in Hollywood, und ja, der Rollentausch wurde in Hamburg bis ins schräge Detail vollzogen: Ein Weltmeister und Trainer hielt die Laudatio, und der Journalist stemmte, durchaus mit Stolz, einen Pokal in die Höhe.

Fragt man Wegbegleiter, was Schulzes Berichte und Kommentare so einzigartig machte, lautet die Antwort häufig: sein Ton

Kontakte zwischen Fußballprofis und Reportern - meist sind das Zweckbeziehungen des Alltags, die enden, sobald der Anlass für ein Treffen wegfällt. Bei diesen beiden war es anders. Aus Respekt wurde im Alter, im Ruhestand, tiefe Freundschaft. Im März 2017 war Ludger Schulze nicht mehr der Sportchef der Süddeutschen Zeitung, die Ärzte hatten ihm schon zum Sommer 2010 das vorzeitige Laufbahnende empfohlen. In seiner Laudatio formulierte Heynckes am Ende jenen Satz, mit dem auch SZ-Leserinnen und -Leser den Autor Ludger Schulze in Erinnerung behalten dürften: "Seine schön formulierten, mit feiner Ironie durchsetzten Beiträge waren oft journalistische Glanzstücke, die selbst in der an guten Schreibern ja nun wahrlich nicht verlegenen Süddeutschen Zeitung hervorstachen."

Dass er Sportreporter werden wollte, war Schulze schon klar, als er seine Fußballreportagen noch zu Hause in Beckum/Westfalen in einen Kochlöffel hineinsprach. Er studierte Germanistik und Geschichte, kam 1976 für ein Volontariat zur SZ nach München und landete tatsächlich in der Sportredaktion, wo er zunächst über vieles schrieb - über Handball, Boxen, den Radsport -, später vor allem über den Fußball. Nach einem Abstecher zur Seite Drei wurde er 1993 stellvertretender Sport-Chef, von 2003 bis 2010 leitete er das Ressort.

Fragt man Wegbegleiter, was Schulzes Berichte und Kommentare so einzigartig machte, lautet die Antwort häufig: sein Ton. Präzise informiert, scharf analysierend - und zugleich oft mit jener Ironie durchzogen, die Jahre später auch Heynckes hervorheben sollte, bei der Ehrung 2017. Egal, wie leicht oder schwer ein Thema sein mochte - Schulzes Leser sollten sich immer gut unterhalten fühlen. Und diesen Ton setzte er im SZ-Sport für eine ganze Generation von Journalistinnen und Journalisten: den Sport ernst nehmen, ohne ihn zu ernst zu nehmen. Das ist Ludger Schulzes Vermächtnis. Oder besser: Es ist ein Vermächtnis von vielen.

Bei den Boykott-Sommerspielen 1980 in Moskau, so berichtete es Schulzes Vorgänger und Mentor Michael Gernandt Jahre später, hat sich der junge Reporter mit dem Kürzel L.S. eines Tages auf der Hoteltoilette eingeschlossen, zeternd und hadernd, dass der beste Teil seines Lebens nun wohl vorbei sei - es war sein 30. Geburtstag. Tatsächlich ging für Schulze vieles danach erst so richtig los: Mexiko 1986, Italien 1990, USA 1994, Frankreich 1998, Japan und Südkorea 2002, Deutschland 2006, alle vier Jahre machte sich Schulze auf zur nächsten Weltmeisterschaft, er porträtierte Teamchefs und interviewte Torschützen, er interpretierte Niederlagen und ordnete Siege ein, immer wieder erstaunt, "wie glücklich so ein simples Spiel wie der Fußball die Menschen machen kann".

Zugleich stand Schulze für einen Sportjournalismus, der viel mehr in den Blick nimmt als das, was auf den Spielfeldern passiert. In dieser Hinsicht setzte er ab 2003 dort an, wo sein Vorgänger Michael Gernandt, der die Redaktion mehr als 20 Jahre lang leitete, begonnen hatte: Schulze verstand den Sport als Teil der Gesellschaft und öffnete die Sportberichterstattung in Politik und Gesellschaft hinein. Er interviewte Günter Grass, die Bundeskanzlerin und den Erzbischof von Köln - es waren Gespräche über Fußball, aber auch über das Leben und die Welt.

Nicht nur diese Haltung dem Sport gegenüber ist der Redaktion bis heute geblieben, es sind auch viele jener Kollegen, die Schulze entdeckte und an die SZ band. Schulze förderte die Sprache - und er förderte junge Journalisten, denen er zutraute, mit ihr umzugehen. Viele prägen diese Zeitung bis heute, in der Sportredaktion, aber auch als Ressortleiter und Reporter in anderen Themenfeldern oder als Korrespondenten in Washington und New York, London und Tokio.

Schulzes Credo als Chef: "Es soll jeden Tag Spaß machen, in die Redaktion zu kommen." Das ist kein schlechtes Motto für die Beziehung zu den eigenen Leuten. Wer daraus eine generelle Scheu vor Konflikten herausliest, liegt allerdings falsch. Gestritten hat sich Schulze über die Jahre mit vielen, er focht diese Konflikte mit derselben Leidenschaft aus, mit der er sich in der Redaktion für seine Kollegen einsetzte. Oft war das auch nötig, denn was heute relativ weitverbreitet ist - ein Sportjournalismus, der auch dorthin geht, wo es wehtut, der aufdeckt, kontrolliert, kritisiert -, galt vor 20 Jahren vielerorts noch als Nestbeschmutzung. Doch Schulze stärkte in der Redaktion jene Kollegen, die zum Beispiel den Umtrieben bei der Fifa oder im IOC nachspürten, und er gab ihnen alle Rückendeckung, wenn sie mal wieder nötig war.

Ludger Schulze war Beobachter, Beschreiber - und manchmal auch Partei

Rückblickend ist es geradezu erstaunlich, wie Schulze dieser Spagat immer wieder gelang: den SZ-Sport als Leitmedium und unabhängige Instanz zu stärken - und zugleich zu einigen Protagonisten eine freundschaftliche Nähe zu pflegen, wie sie heute nur noch selten möglich ist in einer Branche, die sich immer mehr von Pressekorps abschirmen und von PR-Agenten weichspülen lässt. Schulzes Freundschaft zu Heynckes wuchs über die Jahre. Uli Hoeneß war Gast auf Schulzes Hochzeit. Nicht selten wurden diese vertraulichen Beziehungen auf eine harte Probe gestellt - wenn L.S. in der SZ mit spitzer Feder wieder aufschrieb, was aus seiner Sicht eben aufgeschrieben werden musste, beim FC Bayern, beim DFB oder bei der Nationalmannschaft. Gehalten haben die meisten.

So war Ludger Schulze Beobachter, Beschreiber - und manchmal auch Partei. Wie im Jahr 2000, auf dem Höhepunkt der Hoeneß/Daum-Affäre, als Uli Hoeneß den designierten Bundestrainer Christoph Daum in einem Interview ohne Belege unter Koks-Verdacht gestellt und sich so die Empörung der gesamten Branche und weiter Teile der Sportpresse zugezogen hatte. Es war dann ein Kommentar von Schulze auf der ersten Sportseite der SZ, der Daum empfahl, die Sache mit einer Haarprobe aus der Welt zu schaffen - und es wurde die berühmteste Haarprobe des deutschen Fußballs. Daum war überführt und als Bundestrainer unmöglich gemacht, Rudi Völler sprang ein, führte die Nationalelf bis ins WM-Finale 2002 - und Ludger Schulze hatte mal wieder ein bisschen in den Sport-Weltenlauf eingegriffen. Es waren auch Episoden wie diese, die er 2010 mit berechtigtem Stolz mitnahm von München in die bayerische Provinz.

Mit seinem Ausscheiden bei der SZ kehrte Schulze auch der Stadt den Rücken, in der er gelebt, geliebt und, wie jeder ernst zu nehmende Autor, an der Fertigung seiner Texte gelitten hatte. Er zog um ins Ländliche, nach Laufen, aus familiären wie aus sportlichen Gründen: Er sehnte sich danach, trotz strapazierter Gesundheit das Berchtesgadener Land in endlosen Radtouren zu erkunden. Und, befreit vom Stress des Redaktionsalltags, als freier Autor tätig zu sein.

So spiegelt sich sein Schreibstil und sein enzyklopädisches Fußballwissen heute in nahezu allen Texten des Fußballmuseums des FC Bayern, für das er seit dessen Gründung 2012 tätig war. Er editierte dort Sonderausstellungen zu Franz Beckenbauer, Gerd Müller oder Karl-Heinz Rummenigge. Zugleich blieb er der Redaktion in kritischer Distanz verbunden, rief an, wenn er die Dinge anders sah ("Schulze!"), aber ohne jede Früher-war-alles-besser-Attitüde, der sich Ex-Chefs unter Bedeutungsverlust so oft neurotisch ergeben. Er blieb, in bestem Sinne, der Freund seiner Zeitung.

Vorigen Donnerstag noch ein letztes Telefonat; das Gespräch war, im Nachhinein, eine traurige Täuschung. Denn am Ende stand ein leider falsches Kompliment: Ludger!, so vital, so lebensfroh, so humorvoll und leicht hast du dich ja schon lange nicht mehr angehört! Er sagte nicht Nein.

Es war um dies und das gegangen in dieser Dreiviertelstunde, im Zentrum natürlich die finale WM-Analyse. Messi, Mbappé, die Marokkaner. Nur über die Deutschen, da hatte man sich vertagt, zum Stammtisch in Laufen im Januar. Am Telefon war keine fachliche Einigung möglich gewesen. Fast so wie früher in der Redaktion, weit vor der unseligen Zeit der Videokonferenzen: Debatte, Streit, energisch, rechthaberisch, so lange, bis eine starke These stand. Dann ab zum (Versöhnungs-)Bier, früher, in den Achtzigern, den Neunzigern, meist ins Heppel & Ettlich in Schwabing oder ins Stadtmuseum gleich um die Ecke von der alten SZ in Münchens Sendlinger Straße.

Es waren wilde, aus heutiger Perspektive unbeschwerte Zeiten. Nun geht einer, der sie mit Lust und Leidenschaft und anschaulich wie kaum ein Zweiter beschrieben hat. Am zweiten Weihnachtstag ist Ludger Schulze im Alter von 72 Jahren gestorben.

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