Lexikon der Fußball-Gesten:Hand aufs Herz

Vor einiger Zeit hat König Fußball damit begonnen, sein Gestenrepertoire zu erweitern. Für die Verbreitung seiner Ideen beim Volk sorgte die Großaufnahme im Fernsehen. Ein Lexikon in Bildern.

Lothar Müller

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(Foto: imago)

Vor einiger Zeit hat König Fußball damit begonnen, sein Gestenrepertoire zu erweitern. Die Tradition war gut, sie war stark, sie verknüpfte wie eh und je Vergangenheit und Gegenwart, aber es war doch einiges zu modernisieren. So probierte er manche Neuerung aus, griff hier auf alte Mythen, dort auf soziologische Expertisen zurück. Für die Verbreitung seiner Ideen beim Volk sorgte sein wichtigster Medienpartner: die Großaufnahme im Fernsehen. Sie kommt hier im Kleinformat unseres Lexikons daher. Dafür aber mit Kommentar. Hand aufs Herz legen Inbegriff der großen Geste, nähert den Torschützen dem Heldentenor, dem Feldherrn und dem Staatsmann an. Verwandelt den Augenblick nach dem Torschuss in einen historischen Moment. Unbedingt mit der rechten Hand auszuführen. Nach Eigentoren eher selten zu sehen. Hier im Bild: Bremens Stürmer Hugo Almeida.

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Der Salto oder Flic-Flac Aus dem Zirkus importiert. Entführt das athletische Element des modernen Fußballs seiner dienenden Funktion. In der Ära Gerd Müller noch unbekannt. Hoher L'art-pour-l'art- Faktor. In Mehrfachausführung Geste des bedenkenlosen Überschwangs. Spielt mit allem, auch dem Verletzungsrisiko. Hier im Bild: Piotr Trochowski nach einem Tor gegen Schalke.

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(Foto: Alexandra Beier/Reuters)

Hand ans Ohr legen Fordert den akustischen Tribut der Fans ein. Hoher Magie-Faktor. Verwandelt das Ohr in einen Trichter, der den Torjubel der Fans einsammelt, bündelt und als kräftigende Substanz ins Innere des Torschützen einführt. Unkonzentriert-fahriges Herumschrauben am Ohr gefährdet diesen Effekt. Hier im Bild: Luca Toni vom FC Bayern München.

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Haufen-, Traubenbildung Altgedienter Klassiker, bei dem die Spieler den Lieblingssatz der Trainer verkörpern: Fußball ist Mannschaftssport. Hoher Louis-van-Gaal-Faktor. Sieht aus wie Unordnung, ist aber Triumph der Ordnung. Macht nach dem Torerfolg den Torschützen unter dem Vorwand unsichtbar, ihn zu bejubeln. Hier im Bild: Bayer Leverkusen nach dem 1:0 gegen Bayern München im DFB-Pokal 2009.

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Trikot ausziehen Gegenstück zur Haufenbildung. Streift die Mannschaftszugehörigkeit ab, enthüllt das nackte Ich, gern im Zulaufen auf eine Kamera. Regelverstoß, scheinbar hoher Dschungel-Faktor. In Wahrheit Geste des entfesselten modernen Individualismus. Nimmt für die Selbstfeier gelbe Karten billigend in Kauf. Hier im Bild: Diego Forlan von Atletico Madrid feiert mit Teamkollegen Sergio Aguero sein Siegestor gegen den FC Fulham im Finale der Europa League.

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Der Diver Hartnäckig wiederkehrender Versuch, Fußball wie eine Funsportart aussehen zu lassen. Erreicht unter den publikumszugewandten Jubelgesten den höchsten Ranschmeiß-Faktor. Gelingt am besten bei glitschigem Rasen, da aus der Welt der Erlebnisschwimmbäder importiert. Nicht unverzichtbar. Hier im Bild: Die Leverkusener Jens Novotny, Stefan Beinlich, Adam Matysek und Ze Roberto feiern 1998 ihren Sieg in der ersten Pokalrunde des Uefa-Cups.

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Zeigefinger nach oben Die Metaphysikerin unter den Jubel-Gesten. Meist mit dem Blick gen Himmel verbunden. Hoher Priester-Faktor. Ignoriert Publikum, Mitspieler und Trainer zugunsten des stummen Dialogs mit höheren Mächten. Macht das Tor zur Opfergabe, das Stadion zum Altar. Wird durch jedes Grinsen ruiniert. Hier im Bild: Der deutsche Nationalspieler Bastian Schweinsteiger nach dem 3:1 im Testspiel gegen Bosnien-Herzegowina.

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Eckfahne herausreißen Aus dem mittelalterlichen Turnierwesen importiert. Selbstverwandlung des Torschützen in einen Fahnenschwinger. Ist als Tanz und Verführung maskiert, hat aber einen hohen Raubritter-Faktor. Gliedert ein Requisit des neutralen Regelwerks in die eigene Mannschaft ein. Hier im Bild: Bayern Münchens Mittelfeldspieler Bastian Schweinsteiger nach dem 4:0-Sieg im DFB-Pokal gegen Werder Bremen.

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Fliehender Torschütze Sieht aus wie die archaische Horde, die den Ausreißer jagt. Ist aber nur Spiel. Inszeniert den Ausgleich von Mannschafts- und Individualjubel. Torschütze flüchtet vor der Unsichtbarkeit der Haufenbildung, Mannschaft lässt ihn laufen, bleibt ihm aber auf den Fersen. Einholen vorgesehen. Hier im Bild: Frankreichs Christophe Dugarry freut sich über seinen 1:0-Treffer im WM-Halbfinale 1998 gegen Südafrika.

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Ball untem Trikot Rückgriff auf den Mythos vom schwangeren Mann. Adressiert den Fußball an die ganze Familie und feiert das Tor als Geburt. Durch Hinzufügung des Daumenlutschens wird der Spieler zur sozialen Skulptur der Kleinfamilie: Vatermutterkind in einem. Ziemlich hoher Pampers-Faktor. Hier im Bild: Lucio vom FC Bayern freut sich über sein Tor zum 2:0 im Achtelfinal-Rückspiel gegen Real Madrid.

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Trikot überm Kopf Umwertung der archaischen Geste, das Antlitz aus Trauer oder Scham zu verhüllen. Verwandlung des Spielers in einen Dreikäsehoch, der das Fort-da-Spiel spielt: Guckt mal, ich bin weg. Ist er aber nicht. Ist gleich wieder da. Und was will er? Den Beifall der Erwachsenen. Hier im Bild: Du-Ri Cha von Eintracht Frankfurt jubelte 2005 nach seinem Ausgleichstreffer zum 1:1 gegen den Hamburger SV.

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Gegen den Pfosten treten Zum Scheitern verurteilte Anwendung der beim beweglichen Ball sinnvollen Schusstechnik auf das feststehende Tor. Abfuhr der in Aggression verwandelten Enttäuschung. Aber hoher Selbstbestrafungs-Faktor. Beim Torwart: Angriff aufs eigene Haus (Symbol des Ich!). Kann weh tun. Hier im Bild: Ex-Nationaltorhüter Jens Lehmann tritt enttäuscht Holz statt Leder.

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Stirn an Stirn Stellt den Gegner zum symbolischen Duell (Auge gegen Auge, Nase gegen Nase). Hoher John Wayne-Faktor. Macht sinnfällig, dass Fußball Mannschaftssport und zugleich Zweikampf Mann gegen Mann ist. Verlangt Gespür für Zeit. Salzsäulenversionen wirken eher albern. Hier im Bild: Stefan Radu von Lazio und Mirko Vulcinic vom AS Rom geraten beim Lokalderby am 18. April aneinander.

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Die Baby-Schaukel Post-natales Gegenstück zu Ball unterm Trikot. Entstanden als Widmung eines Tores an den Nachwuchs des Schützen. Davon längst emanzipiert. Die wahren Kinder eines Stürmers sind seine Tore. Ganz moderner Vater, präsentiert er sie stolz den Fans. Hier im Bild: Kevin Kuranyi vom VfB Stuttgart verknüpft Vaterglück und Torjubel.

© SZ vom 05.06.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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