Lewis Hamilton:Darauf einen Helm

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Ähnliches Muster auf der Oberseite? Lewis Hamilton nahm auf dem Nürburgring tief ergriffen einen Helm von Michael Schumacher entgegen. (Foto: Zak Mauger/imago images)

91 Formel-1-Siege, das ist nur eine Zahl. Das Geschenk der Familie Schumacher weckt in Hamilton allerdings Stolz - und so manche Erinnerung an Kindheitshelden.

Von Philipp Schneider, Nürburg

Der Helm eines Rennfahrers ist nicht zu vergleichen mit dem Trikot eines Fußballers. Erst recht nicht als Devotionalie. Das Trikot fängt den Schweiß, schützt vor Wind, lässt sich waschen und anschließend in den Schrank hängen. Wer es auszieht auf dem Platz, der wird obenrum nackig und sieht zur Strafe eine gelbe Karte. Der Helm schützt den Kopf, rettet Leben, verbessert sogar die Windschnittigkeit der Einheit aus Fahrer und Auto. Und in jenem Moment, in dem er wieder abgenommen wird, ist der Helm die entscheidende Requisite bei einer Metamorphose, die es so vielleicht nur im Motorsport gibt: Der Rennfahrer, gerade noch auf dem Sitz einer Maschine und reduziert auf Raserei und Geschick, wird wieder zum Menschen. Mit Mimik und Sprechvermögen.

Man muss wohl Rennfahrer sein, um nachzuvollziehen, was Lewis Hamilton empfand in jenem Moment, als ihm am Sonntag der Sohn des Rekordweltmeisters einen Helm des Rekordweltmeisters überreichte. Mick Schumacher, 21, hielt den Kopfschutz Michael Schumachers, 51, in seinen Händen, den dieser in seiner letzten Saison in der Formel 1 2012 auf dem Haupt getragen hatte. Es war eine Geste der Familie Schumacher, die in diesem Moment auf so vielen Ebenen dem Anlass angemessen war, dass man ihr verzieh, dass sie haarscharf nur den Kitsch verfehlte. 70 Jahre Formel 1. 1029 Rennen! Aber für die Winzigkeit eines Augenblicks waren die zwei erfolgreichsten Fahrer der Geschichte gleichauf: 91 Rennsiege hatten nun beide, Hamilton und Schumacher.

"Ich habe ja ein schlechtes Gedächtnis", sagte Hamilton später, "aber dieser Moment muss bleiben. Das heute ist definitiv mehr als nur ein weiterer Sieg." Der Moment wird nicht bleiben. Er dürfte so schnell vergehen wie die Formel 1 reisen kann, schon in 14 Tagen beim nächsten Rennen ist er vorbei. Hamilton meinte auch die Erinnerung an ihn.

Wenn ein Sohn dem Nachfolger seines Vaters in jenem Moment ein Geschenk überreicht, an dem dieser die Nachfolge antritt, dann heißt das auch: Es ist völlig in Ordnung, dass geschieht, was geschieht. Er willigt sozusagen ein in die Thronfolge. Mick Schumacher ist am Nürburgring gefragt worden, was er empfinde angesichts des Verblassens des Alleinstellungsmerkmals seines Vaters. Er hat so geantwortet, als verstehe er die Frage gar nicht. "Mein Vater hat immer gesagt: Rekorde sind da, um gebrochen zu werden."

Dieser Helm Michael Schumachers, den Hamilton wie eine Trophäe in den Himmel streckte und auch zur Pressekonferenz schleppte, erzählte noch mehr. Er verriet etwas über die Eigenheiten Schumachers, seine Schrulligkeiten jenseits des Perfektionisten. Über den Schumacher, der mit Nico Rosberg bei Mercedes die Nummern tauschte, der die "3" anstelle der "4" verlangte, weil er nur mit ungeraden Nummern fahren wollte. Jener Schumacher, der immer nur von der linken Seite ins Auto stieg, weil er sonst Ungemach fürchtete. Der erst später merkte, dass es von rechts genauso gut funktioniert. Und der diesen erstaunlichen asiatischen Drachen auf dem Helm trug, der nun in Hamiltons Besitz überging. Ein verspielter Drache, der nie so recht passen wollte in die prosaische Landschaft rund um Kerpen, und den Schumacher mal so begründete: "Eine Zeitung in China hat das für mich als Symbol für Kraft und Stärke gewählt. Es hat mir gefallen." Der Helm eines Rennfahrers kann sehr persönlich sein.

Bei Schumacher kommt noch hinzu, dass er in seiner aktiven Zeit die Sicherheit der Kopfpanzer in der Formel 1 vorangetrieben hat: Die Sturzhelme der frühen Weltmeister waren Lederkappen, die durch eine Zugband-Brille zum Schutz der Augen vor dem Fahrtwind und Schmutz ergänzt wurde. Die Helme in Schumachers Generation waren technische Wunderwerke, so ausgetüftelt wie die Rennwagen. All das ging nicht spurlos vorbei an Lewis Hamilton, der noch am Vortag erzählt hatte, dass ihm die Egalisierung des Rekords nicht viel bedeuten würde. Da irrte er. Er nahm ja bereits den zweiten Helm Schumachers in Besitz, woran er sich nun erinnerte.

Beide erkannten früh die künftige Überlegenheit ihres Teams

Noch vor seinem Wechsel zu Mercedes zur Saison 2013 hatte ihm Schumacher einen überreicht. Der erste Helm galt seinem Nachfolger im Team. Der zweite, der vom Sonntag am Nürburgring, galt seinem Nachfolger in den Geschichtsbüchern. "Niemand hätte sich vorstellen können, auch nur in die Nähe von dem zu kommen, was Michael erreicht hat", erzählte Hamilton nun. 91 Siege zu holen, das sei schwer zu verstehen gewesen für ihn.

Und da Hamilton und Schumacher nun gemäß der Indikator-Ziffer "91" vorübergehend mathematisch auf einer Stufe stehen, treibt die Menschen die Sehnsucht nach Auflösung einer bohrenden Frage: Wer ist der Größte? Es ist ja eine der fiesesten Gemeinheiten des Sports, dass sich diese nie wird beantworten lassen. Nicht einmal, wenn man sich nur auf die Zahlen beschränkt. Schumacher steht mit sieben WM-Titeln, 91 Rennsiegen, 77 schnellsten Rennrunden und 24 082 Führungskilometern in vielen Ranglisten ganz oben. Aber er benötigte dafür 307 Auftritte. Juan Manuel Fangio holte fünf Weltmeisterschaften, 24 Siege und 29 Pole Positions in nur 51 Grand Prixs. Damit war der Argentinier effizienter - aber war er auch besser? Außerdem: Was ist mit den zu früh Verstorbene, mit Alberto Ascari, Jim Clark und Ayrton Senna? Es gibt nur Piloten, die jeweils die besten waren ihrer Generation. Wie Hamilton und Schumacher, auch wenn der Mann aus Kerpen 14 Rennen weniger benötigte für 91 Siege als sein Nachfolger aus Stevenage. "Man kann Lewis' Leistungen nicht hoch genug einschätzen. Die Marken, die er hinterlässt, werden wohl unerreichbar sein", gratulierte Sebastian Vettel, der sich als viermaliger Weltmeister vor zwei Jahren noch auf einer Ebene wähnte mit Hamilton. Dennoch sei es so: "Michael war besser als jeder, den ich gesehen habe. Er hatte ein Naturtalent, das ich bei niemandem sonst erlebt habe."

Hinter beiden Fahrern, Schumacher und Hamilton, stand und steht ein akribisches Team, das sie mitgezogen hat. Schumacher hatte Jean Todt und Ross Brawn. Hamilton hat Toto Wolff, James Vowles und James Allison, der auch schon für Schumacher arbeitete. Und sie saßen und sitzen in überlegenen Autos. Mercedes ist seit der Umstellung auf die komplexen Hybrid-Motoren 2014 nicht zu besiegen. Teamchef Wolff wies darauf hin, dass die erfolgreiche Bewerbung bei einem künftig dominanten Team eine Leistung sei. "Lewis hat sich in die Position gebracht, für das beste Team zu fahren. Viele andere talentierte Fahrer haben sich mit ihrem Verhalten und mit falschen Entscheidungen ins Abseits manövriert", lobte Wolff, womit er ganz beiläufig auch sich selbst lobte.

Auch das eint Schumacher und Hamilton weit über den Moment hinaus: Der eine traute sich als zweimaliger Weltmeister zum tristen Team Ferrari, der andere als einmaliger zum tristen Team Mercedes. Dafür gab es schon damals einen Helm von Schumacher.

© SZ vom 13.10.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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