Leverkusen:In Ketten und Fesseln

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Konzeptlos und elfmeterverseucht: Auch dem neuen Trainer Korkut gelingt keine schnelle Sanierung. Ohne Selbstvertrauen geht es nun ins Rückspiel nach Madrid.

Von Philipp Selldorf, Leverkusen

Rudi Völler hat viel erzählt zum Hergang des 1:1 zwischen Bayer Leverkusen und Werder Bremen, aber nach ein paar Minuten ausdauernden Herunterbetens von Floskeln und Beschwichtigungen mochte er sich selbst nicht mehr zuhören. Der Sportchef seufzte genervt und stellte ein für alle Mal fest, es sei "natürlich blöd, alles auf die Elfmeter zu schieben. Aber von fünf Elfmetern kann man zwei, drei reinmachen - und dann müsste ich jetzt hier nicht stehen und Durchhalteparolen schwingen", wusste Völler.

Fünf Elfmeter hat Bayer Leverkusen im Laufe der Saison verschossen, der von vier Klubs gehaltene Liga-Minusrekord von sechs (zuletzt Freiburg 1998/99 und 1999/2000) ist in akuter Gefahr. Am Freitagabend war Kapitän Ömer Toprak der Untröstliche. Mit bewundernswerter Entschlossenheit hatte er den Ball ergriffen, um zur Ausführung zu schreiten, aber sein Schuss war so schwächlich und verzagt, dass Felix Wiedwald im Bremer Tor nicht nur den ersten Elfmeter seiner Profilaufbahn abwehrte, sondern den Ball auch problemlos festhalten konnte. Gleich danach beendete der Schiedsrichter die Partie, und in der Leverkusener Fankurve begann ein lautes Pfeifen und Buhen. Immerhin sah man davon ab, Tayfun Korkut, den Nachfolger des am vorigen Sonntag verabschiedeten Trainers Roger Schmidt, für die Enttäuschung verantwortlich zu machen. Stattdessen forderte die Kurve den Rauswurf des Geschäftsführers Michael Schade, der das Spiel in Gesellschaft des Bundestrainers verfolgt hatte.

In Madrid fehlt Toprak, einer der letzten Aufrechten

Joachim Löw sah auf seiner Inspektionstour ein Spiel, das die allseits herrschenden Erwartungen widerlegte, Schmidts Beurlaubung werde auf die Leverkusener Elf wie eine Befreiung von Ketten und Fesseln wirken. Eher musste man den Eindruck haben, dass das Regime zu spät gestürzt wurde. Bayer bot eine Leistung, die an Armseligkeit und Konzeptlosigkeit der Leistung beim vorigen Heimspiel gegen Mainz (0:2) jederzeit ebenbürtig war.

Die Fortsetzung der unseligen Elfmeter-Tradition war eine passende Schlusspointe. Damit dürfte wirklich jeder verstanden haben, dass die Sanierung dieser Mannschaft keine Aufgabe ist, die sich durch den Austausch des Cheftrainers im Handumdrehen erledigt. Kevin Vollands Treffer zum 1:0 nach sechs Minuten war lediglich eine Form von optischer Täuschung. Dieser verheißungsvolle Start ins Spiel entsprang außer Julian Brandts Schusskraft beim vorangegangenen Lattentreffer nur der Laune des Augenblicks und hatte nichts zu tun mit Aufbruchsstimmung, weshalb die Empfehlung von Ömer Toprak, man müsse nach diesem Abend "das Schlechte weglassen und das Gute mitnehmen", die Frage aufwarf: Welches Gute?

Hinzu kommt, dass Bayer am nächsten Tag bekanntgab, Toprak werde beim Wiedersehen mit Atlético Madrid am Mittwoch in der Champions League verletzt fehlen. Der Ausfall des Abwehrchefs, einer der letzten Aufrechten im kriselnden Team, ist beim Zwischenstand von 4:2 für die Spanier eine bedrückende Neuigkeit. Die Tatsache, dass Aleksandar Dragovic der letzte verbliebene Innenverteidiger ist, steigert den Kummer. Im Hinspiel gegen Atlético erlebte der Österreicher einen Tiefpunkt.

Coach Korkut sprach vom FC Barcelona, um die Stimmung etwas aufzuhellen. Die vergangenen Tage hätten gezeigt, "was alles möglich ist", sagte er. Den FC Barcelona als Referenzgröße heranzuziehen, war an diesem Abend allerdings eine kühne Idee. Rudi Völler hielt die Warnung für angemessen, man müsse "auch schauen, was hinter uns passiert - das darf man nicht unterschätzen". Korkut hat dazu eine andere Meinung: "Wir schauen überhaupt nicht nach unten!"

Im Vergleich mit den gewohnheitsmäßigen Klassenerhaltskämpfern aus Bremen sahen jedoch eher die Leverkusener wie ein Vertreter der bedrohten Art aus. Werder spielte nicht bloß mit, sondern bestimmte couragiert das Geschehen. Vor dem Tor stellten sich die Bremer allerdings vorwiegend dilettantisch an. Es musste erst der gute alte Claudio Pizarro, 38, aufs Feld kommen, um den Kollegen zu zeigen, wie man das macht. Bei seiner Einwechslung in der 76. Minute hatte sich das ganze Stadion zum Applaus erhoben, Bremer wie Leverkusener, ein Moment von Euphorie einte beide Lager. Zwei Minuten später bedankte sich der Stürmer, indem er, wie Werder-Coach Alexander Nouri fachmännisch und zutreffend analysierte, "den Ball gewollt abfälschte".

Der erste Saisontreffer des Großmeisters und Großcharmeurs Pizarro, der selbst den Erhalt einer gelben Karte zu einem Erlebnis für alle Beteiligten erhebt, löste im Kreis der Mitspieler eine Kundgebung für die nächste Vertragsverlängerung aus: "Was er so mitbringt in seinem höheren Alter, ist richtig klasse", lobte Fin Bartels ehrfurchtsvoll, "er ist einfach ein abgezockter Hund."

© SZ vom 13.03.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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