Leverkusen:Eigensinnige Geister

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Drama? Tragödie? Pech? In Leverkusen reden sie sich das Aus in der Champions League schön - und vermeiden die Grundsatzdebatte über den Trainer.

Von Philipp Selldorf, Leverkusen

An Statistiken hat es die Uefa wieder nicht fehlen lassen nach dem 1:1 zwischen Bayer Leverkusen und dem FC Barcelona, aber die interessantesten Werte wurden leider wieder nicht erfasst. Wie viele Meter war Lionel Messi während der zweiten Hälfte auf der Rasenfläche spazieren gegangen? Dem Augenschein nach hatte er sich ungefähr so weit bewegt wie der Fernsehzuschauer, der den Weg vom Polstersessel zum Kühlschrank und zurück wagt. Auch konnte man glauben, dass der beste Fußballer des Universums zur Pause die Stollenschuhe gegen Filzpantoffeln und das Trikot gegen den Flanellpyjama getauscht hatte - durchaus faszinierend war es, zu sehen, wie Lionel Messi als neutraler Beobachter die Zweikämpfe seiner Mitspieler begutachtete.

In der ersten Hälfte hatte es immerhin so ausgesehen, als sei Lionel Messi tatsächlich zum Fußballspielen aus Katalonien ins Rheinland gekommen, er schoss sein obligatorisches Tor und führte ein Barcelona an, das zwar weitgehend seiner Stars entledigt war, aber eine Menge jugendliche Begabung und in deren Mitte einen glänzend aufgelegten Ivan Rakitic mitbrachte. Aber der zweite Durchgang? Da entstand der Eindruck, als ob anstelle des Originals eine chinesische Raubkopie des FC Barcelona in der BayArena gastierte.

Roger Schmidt beklagte nach der Partie in großen Worten, dass Bayer 04 an diesem Abend um ein einziges Tor das Achtelfinale der Champions League verpasst hatte. Die Erschütterung war angemessen, den richtigen Ton traf er trotzdem nicht. Der Trainer sprach von "sehr viel Pech", von einem "Drama" und einer "Tragödie", als ob sein Team durch ein bösartiges Schicksal den Einzug ins Achtelfinale der Champions League verpasst hätte. Worüber er nicht sprach: Über den Übereifer und die Hektik, mit der seine Angreifer die schönsten Torchancen verschwendeten; über die seltsame Lethargie, die sein Team in der Schlussviertelstunde zeigte, als alle den finalen Sturmlauf erwarteten. So war Schmidts pathetisches Leiden doch nur eine Beschönigung. Beziehungsweise: ein typischer Fall von Leverkusener Beschönigung. In Wahrheit hatte es das Schicksal ja gut gemeint mit Bayer 04, es schenkte doppelt Gunst. Beim großen Gegner hatte Schmidts Kollege Luis Enrique maximal abgerüstet, als er stellvertretend für die Stammkräfte vier Junioren aus der dritten Liga und eine Handvoll Reservisten ins Spiel schickte; und der Leverkusener Tabellenkonkurrent AS Rom tat auch seinen Teil dazu, als er dem weißrussischen Meister Bate Borissow ein 0:0 gewährte.

Die Mannschaft habe "ein sehr, sehr gutes Spiel abgeliefert", referierte Sportchef Rudi Völler

Wut und Selbstgeißelung wären also angebracht gewesen auf Seiten der Hausherren, Buhrufe und Pfiffe von den Rängen - Lebenszeichen der Enttäuschung. Stattdessen gab es netten Applaus aus der Fankurve und ein paar verbale Scharmützel von Roger Schmidt und Rudi Völler in den Fernseh-Interviews. Und der Krach, den Mittelstürmer Chicharito und Karim Bellarabi auf dem Spielfeld austrugen, war keine produktive Reibung, sondern der Hahnenkampf zweier eigensinniger Geister. Ansonsten gab's das Leverkusener Standardprogramm: Die Mannschaft habe "ein sehr, sehr gutes Spiel abgeliefert", referierte Sportchef Völler, von diesem Abend könne man für die nächsten Aufgaben "ein paar Dinge mitnehmen".

Entsprechend entspannt verabschiedeten sich die Spieler in den Feierabend. Nach dem Abpfiff plauschte Christoph Kramer mit seinem früheren Gladbacher Kollegen Marc-André ter Stegen, während Kyriakos Papadopoulos und Sebastian Boenisch herzliche Umarmungen mit ihrem ehemaligen Schalker Mitspieler Ivan Rakitic austauschten. Wie Bilder einer Tragödie hat das alles nicht ausgesehen. Und der wie immer aufrecht eifrige Mittelfeldspieler Kevin Kampl meinte: "Wir haben heute gezeigt, dass wir eine Super-Truppe sind." Dazu variierte er das berühmte Bonmot des Mittelstürmers Jürgen "Kobra" Wegmann: "Es ist ein bisschen Pech, und auch kein Glück, das du hast."

Schwer zu sagen, was in den nächsten Wochen und Monaten in diesem Klub passieren wird. Die verantwortlichen Koryphäen scheinen darüber mindestens so sehr zu rätseln wie die ständigen Begleiter. Rudi Völler, die sportliche Instanz des Klubs, leistet zwar entschieden Gegenwehr, wenn der Trainer und sein kraft- und nervenraubendes Spielsystem kritisiert werden. Er hält sich aber auch entschieden zurück, wenn es darum geht, Argumente für Schmidts Treibjagd-Fußball zu benennen. Dass dieser begabten Mannschaft der Spaß am Spiel abhanden gekommen ist, ist zwar einigermaßen offensichtlich. Doch solange man auf die Formschwächen von Hakan Calhanoglu, Karim Bellarabi und anderen Spitzenkräften verweisen kann, geht man der Grundsatzdebatte lieber aus dem Weg.

© SZ vom 11.12.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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