Leichtathletik:Zehn Millionen Dollar für zehn Startplätze

Lesezeit: 4 min

Der Weltverband verhängt eine Höchststrafe gegen Russland - die Saga um den Dopingbetrug ist damit freilich nicht beendet.

Von Johannes Knuth, München

Der Leichtathletik-Weltverband erstellt seit einiger Zeit jede Woche eine digitale Übersicht, was in seinem Sport demnächst so los sein wird. Es ist ein simpler Service, auf den andere Sportvermarkter längst gekommen sind, aber in der traditionsbewussten Leichtathletik gehen derartige Neuerungen noch als Innovation durch. Und der Fairness halber muss man sagen: Olympias Kernsportart ist derart vielschichtig, dass im bunten Treiben seiner Akteure schnell etwas durchrutscht, weshalb die Öffentlichkeitsarbeiter des Verbandes in ihrem digitalen Rundbrief auch eine Rubrik installiert haben "In case you missed it" - falls man irgendwas verpasst haben sollte. Oft wird dort Nebensächliches gemeldet, etwa dass der Wettbewerb um das beste Fan-Foto des Jahres eröffnet ist. Zuletzt versteckte sich in der Fußnote allerdings Rekordverdächtiges: eine Zehn-Millionen-Dollar-Strafe für Russlands Verband.

Der Hinweis war berechtigt: In den Tagen der Corona-Pandemie war die höchste jemals verhängte Finanzsanktion, die der Leichtathletik-Weltverband kurz zuvor ausgesprochen hatte, tatsächlich fast untergegangen.

Das Verdikt erinnert erneut an eine weitere Baustelle, die den Weltsport in nächster Zeit beschäftigen wird: Wie beendet man eine Saga wie jene des russischen Pharmabetrugs, die allem Anschein nach nicht enden will? Durch einen Kuschel- und Schlingerkurs, den vor allem das Internationale Olympische Komitee (IOC) und die Welt-Anti-Doping-Agentur (Wada) bis zuletzt gefahren waren? Oder doch mit Rekordstrafen und harter Kante?

Volle Attacke: Die russische Hochspringerin Marija Lassizkene fordert von ihren Funktionären endlich Einsicht. (Foto: Natalia Fedosenko/imago)

Der Leichtathletik-Weltverband, der seit rund fünf Jahren vom Briten Sebastian Coe gelenkt wird, hatte den russischen Verband Rusaf im November 2015 gesperrt, wegen systemischen Dopings. Diesen Kurs hat Coe bis heute nicht aufgeweicht, es gab ja immer wieder neue, belastende Indizien: gesperrte Trainer, die in der Provinz weiter Athleten betreuten, viele Besserungsschwüre, wenige Taten. Dann ging den Fahndern der Hochspringer Danil Lyssenko ins Netz. Der hatte bei der Freiluft-WM 2017 Silber und bei der Hallen-WM 2018 Gold gewonnen; er war einer von Dutzenden russischen Athleten, die bis zuletzt bei Großevents unter neutraler Flagge starten durften - wenn sie nachgewiesen hatten, dass sie nicht in eine Manipulation eingebunden sind oder waren. Lyssenko verletzte diese Spielregeln, als er im Sommer 2018 zum dritten Mal binnen zwölf Monaten eine Dopingkontrolle verpasste.

Die Athletics Integrity Unit (AIU) - jene Kontrollbehörde, die Coe aus dem Verband gelöst hat und die seitdem mit durchaus beachtlichen Ermittlungserfolgen auffällt - vernahm zwei Dutzend Zeugen, sie wertete allein sechs Terrabyte Daten aus. Lyssenko, hielt sie kürzlich nach 15-monatigen Ermittlungen fest, habe Dokumente gefälscht, die suggerierten, er sei zu einem Testzeitpunkt in einer Moskauer Klinik gewesen; sein Verband, allen voran Rusaf-Boss Dmitrij Schljachtin, habe das vermeintliche Alibi gedeckt. Russland, so empfahl die AIU, gehöre unter diesen Umständen nicht mehr suspendiert, sondern ganz aus der Sportgemeinde geworfen.

Dann geschah plötzlich Wunderliches: Jewgeni Jurtschenko, der zuletzt hastig als Schljachtins Nachfolger an die Spitze des Verbandes gehievt worden war, räumte sämtliche Manipulationen ein, die sein Vorgänger heftig bestritten hatte. Jurtschenko war zuvor in der russischen Luft- und Raumfahrtbehörde tätig; ein Konkurrent, der sich ebenfalls um den Chefposten im Leichtathletik-Verband beworben hatte, sagte, er habe Jurtschenko noch nie in der Nähe eines Stadions gesehen. Der Rat des Weltverbands verzichtete jedenfalls auf den angedrohten Platzverweis, es hielt die Suspendierung des russischen Verbandes aber aufrecht und legte ihm besagte Rekordstrafe auf: "Die bisherigen Sanktionen waren ganz offensichtlich noch nicht dazu geeignet, die Kultur im russischen Verband zu ändern", sagte Coe. Er will die russische Organisation erst dann wieder eingliedern, wenn die Betrugsmentalität glaubhaft entwurzelt ist, daran rüttelte der sonst sehr wendige Lord nicht. Das Council seines Verbandes spielte auch das Verfahren für russische Athleten neu auf, die unter neutraler Flagge starten dürfen. Zuletzt war das Verfahren ausgesetzt worden, nun gilt es erst mal nur für zehn Athleten. Bei der WM im vorigen Herbst in Doha waren noch 29 russische Sportler akkreditiert gewesen, die sechs Medaillen gewannen.

So kann und muss man das wohl auch sehen: Zehn Millionen Dollar Strafe, zehn Startplätze im Gegenzug.

Noch ist unklar, wie ernst es die neue russische Verbandsleitung wirklich mit dem Kulturwandel meint. "Die Hauptsache war, dass unsere Athleten wieder bei internationalen Wettkämpfen starten können", sagte Jurtschenko; ihm ging es zunächst offenkundig darum, das Binnenklima zu besänftigen. Marija Lassizkene, die in Doha Hochsprung-Weltmeisterin geworden war, hatte in den vergangenen Monaten immer wieder russische Funktionäre kritisiert, die hinter den Sanktionen eine Verschwörung des Westens beklagten. Lassizkene hatte sogar gedroht, ihre Verbandsführung auf Schadenersatz zu verklagen: Sie hatte Olympia 2016 bereits verpasst, als die russischen Leichtathleten fast kollektiv ausgesperrt waren; nun drohte ihr der Tokio-Bann. Derartiger Ungehorsam gegen die eigene Verbandsführung war in all den Jahren in kaum einem anderen russischen Sport zu beobachten - ob das ohne die harte Politik des Leichtathletik-Weltverbandes auch so gekommen wäre?

Der russische Hochspringer Danil Lyssenko hat sich nicht an die Spielregeln gehalten und muss deshalb nun aussetzen. (Foto: Sergei Bobylev/imago)

Und der restliche Sport? Das IOC mit seinem deutschen Präsidenten Thomas Bach hatte die Russen 2016 noch in Mannschaftsstärke zu den Spielen in Rio de Janeiro zugelassen - da war das gigantische Ausmaß des russischen Betrugs längst bekannt, vor allem bei den Winterspielen von Sotschi 2014. Sauer schien Bach aber vor allem auf Coe zu sein, der den Russen auch dann noch harte Auflagen aufzwang, als der Rest des organisierten Sports bereits eine Befriedungspolitik betrieb. Die Wada hatte Russland wiederum zuletzt für vier Jahre von Olympischen Spielen verbannt - eine Datenbank, die das Moskauer Anti-Doping-Labor erst nach langem Hin und Her überreichte, enthielt diverse Manipulationsspuren. Aber selbst dieser Bann enthielt noch einige Schlupflöcher; in Tokio könnte wohl wieder eine große Zahl an Athleten starten, verbannt wären nur Flagge und Hymne.

Russland mochte selbst dieses Wimpel-Verbot nicht akzeptieren, es legte vor dem Internationalen Sportgerichtshof Cas Widerspruch ein - man habe die Manipulationen gar nicht veranlasst, hieß es. Kaum vorstellbar, dass der Cas den verworrenen Fall bis zum geplanten Start der Tokio-Spiele entscheidet.

Sofern diese denn überhaupt stattfinden.

© SZ vom 18.03.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: