Leichtathletik:"Wir müssen wieder Begeisterung wecken"

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Harmonisch auf der Vorderbühne: Der ehemalige DLV-Chef und neue Ehrenpräsident Clemens Prokop (r.) und sein Nachfolger Jürgen Kessing. (Foto: Arne Dedert/dpa)

Jürgen Kessing ist neuer Präsident des Deutschen Leichtathletikverbandes. In seiner ersten Medienrunde spricht er über seine Ziele - und knüpft dabei behutsam an seinen Vorgänger an.

Aufgezeichnet von Johannes Knuth, Darmstadt

Zeitenwechsel an der Spitze der deutschen Leichtathletik: Clemens Prokop hat am Samstag beim Verbandstag in Darmstadt nach 17 Jahren aufgehört, Jürgen Kessing ist neuer Präsident des DLV. Der 60 Jahre alte Betriebswirt bekam 88,3 Prozent der Stimmen. Seit 2004 ist er Bürgermeister von Bietigheim-Bissingen. Er erbt einen Verband in gutem Zustand, sportlich wie wirtschaftlich - der allerdings Zeuge von unruhigen Zeiten im organisierten Sport ist, nach diversen Korruptionsfällen und Skandalen. Kessing war früher Zehnkämpfer, als Sportfunktionär ist er aber eher ein Quereinsteiger. In seiner ersten Medienrunde nach der Wahl knüpft er behutsam an viele Positionen seines Vorgängers an - und setzt schon auch den einen oder anderen Akzent.

Was ist für Sie das Wichtigste, wenn Sie jetzt Ihr neues Amt antreten?

Das ist ja wie in der Politik: Man will als Erstes die Welt verändern, am besten schon am nächsten Morgen (lächelt). Das Wichtigste ist sicherlich, dass ich mich erst mal im Verband bekannt mache, um dann die Dinge aufzugreifen, die bereits laufen. Das ist eine Menge.

Sie sind im Hauptberuf Bürgermeister, es gab im Vorfeld einige Berichte, wonach Sie eher nach Fernsteuerung arbeiten wollen. Der DLV sei ja ein gut geführter Verband.

Ich denke schon, dass es in meinem Leben jetzt etwas unruhiger wird. Ich weiß nicht, wie der Eindruck entstehen konnte, dass ich den Verband en passant führen könnte. Zwei, drei Tage werden sicher nicht reichen. Aber als Oberbürgermeister kann man seinen Terminkalender ganz gut selbst gestalten. Die wichtigsten Termine in meiner Stadt sind unter der Woche, die meisten Termine des Verbands eher am Wochenende. Und wenn es halt mal nicht funktionieren sollte, gibt es sowohl Vertreter im Verband als auch bei mir im Hauptberuf.

Der Verjüngungsprozess ist ja recht gering, Sie sind zwei Tage jünger als Ihr Vorgänger. Wie viel Zeit geben Sie sich, sich in die Dinge einzuarbeiten?

In der Politik haben Sie mindestens eine Schonfrist von 100 Tagen. Ob die ausreichen, kann ich nicht sagen. Vermutlich nicht. Viele, die mich vorher angesprochen haben, haben mir gesagt: Mach es nicht für eine Periode, eher zwei, also für acht Jahre. Weil sie eine Periode brauchen, bis sie in der zweiten eher Akzente setzen können. Ich habe das auch als Oberbürgermeister erlebt: Es braucht Jahre, ehe sie die Leute und ihre Eigenheiten kennen. Ich weiß, dass das schwierig ist in der heutigen Zeit, jeder Kriminalfall im Tatort ist nach 90 Minuten gelöst. Das schaffen wir nicht (lacht).

Wie hilfreich wird Ihre Fähigkeit aus der Politik sein, Kompromisse zu schmieden?

Ich bin jetzt seit über 40 Jahren in der Branche tätigt, es schadet nicht, wenn man sich die Fähigkeit zum Kompromiss bewahrt. Wenn sie mit der Dampfwalze reingehen, haben sie vielleicht kurzfristig Erfolg, langfristig auf keinen Fall.

Es ist bei Verbandstagen eher selten, dass einem scheidenden Präsidenten so viel Lob nachgesprochen wird wie jetzt Clemens Prokop. Vor allem für seine kritische Stimme, von denen es im deutschen Sport nicht viele gibt. Wollen Sie diese Rolle ähnlich ausfüllen?

Clemens Prokop hat dieses Thema hervorragend erarbeitet in den vergangenen Jahren, und er ist ja nicht aus der Welt. Ich freue mich, weiter auf seine Expertise zurückzugreifen. Er war 17 Jahre Präsident, da können Sie nicht erwarten, dass jemand Neues dieses Niveau innerhalb von drei Tagen erreicht. Ich werde auch versuchen, eigene Spuren zu hinterlassen. Der DLV hat aber einen großen Stellenwert beim Thema Anti-Doping, es gibt keinen Anlass, das zu verspielen. Da werden wir alle für kämpfen. Es wird von daher wohl eine Stimme mehr geben, die in das gleiche Kerbholz schlägt.

Wie soll dieser Anti-Doping-Kampf konkret aussehen? Auch mit Bezug auf das russische Staatsdoping, das gerade vehement diskutiert wird.

Bitte haben Sie Verständnis, dass ich da grundsätzlich noch nicht bis ins Detail eingearbeitet bin. Der Kampf gegen Doping ist natürlich nicht beendet, und dass er irgendwann einmal beendet wird, ist eher unwahrscheinlich. Was Russland angeht: Wenn man dem Glauben schenken darf, was sich da herauskristallisiert, hat das eine Systematik, bei der die Chancengleichheit eigentlich nicht mehr gegeben ist. Da müssen alle Verantwortlichen im Weltsport eine deutliche Sprache sprechen. Bei den Leichtathleten waren bei der WM zuletzt nur einzelne Athleten dabei, die ihre Sauberkeit nachgewiesen haben, das ist sicherlich ein Ansatz. Clemens Prokop hat ja auch vorgeschlagen, eine neutrale Instanz entscheiden zu lassen, ob jemand international startberechtigt ist oder nicht. Das ist ein sehr diskussionswürdiger Vorschlag.

Ihr Vorgänger hat sich oft sehr kritisch gegenüber dem Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB) geäußert. Müssen Sie da jetzt etwas reparieren?

Wissen Sie, das Schöne ist ja: Wir leben in einem freien Land. Ich möchte in gar keinen anderen leben. Und wenn jemand die Interessen eines Verbandes wahrnimmt und eine feste Überzeugung hat, darf er die vertreten, auch wenn die jemand anderem nicht passt. Das muss man auch aushalten. Beim Anti-Doping-Gesetz hat es fast elf Jahre gedauert, bis es verabschiedet wurde. Ohne die Hartnäckigkeit (von Prokop, Anm.) hätte sich da womöglich nichts geändert. Das ist ja ein wichtiges Thema, nicht nur ein strafrechtliches oder ethisches. Viele Athleten, die früher wissentlich oder unwissentlich gedopt haben oder wurden, ertragen heute gesundheitliche Spätfolgen, bis hin zum frühen Tod. Das kann eine vernünftige, aufgeklärte Gesellschaft eigentlich nicht wollen.

Der DLV hat in den vergangenen zehn Jahren rund 75 000 Mitglieder verloren. Sie sprachen davon, wieder neue Mitglieder zu gewinnen. Wie wollen Sie das schaffen?

Ich wollte zunächst mal ein Ziel formulieren. Antoine Saint-Exupéry hat mal gesagt: Erzähle den Leuten nicht, wie man ein Schiff baut, sondern erzähle ihnen von der Reise. Dann bauen sie das Schiff möglicherweise selbst. Wir haben 815 000 Mitglieder, da wäre ein Wert von einer Million eine schöne Zahl. Das wird nicht von heute auf morgen gelingen. Ich habe immerhin aus Bietigheim-Bissingen schon eine Meldung erhalten: Dort sind nach der Wahl zehn Leute in den Leichtathletik-Verein eingetreten (lacht). Wir haben generell ein bisschen aus den Augen verloren, wie gut und wichtig der Verein im Sport ist. Wir haben eine Gesellschaft, die zunehmend egoistischer geworden ist. Wenn man gemeinsam schwitzt, sich motiviert und anfeuert, dann ist das einfach ein tolles Gemeinschaftsgefühl. Für mich haben, unabhängig von der Sportart, immer die Vereine Vorrang. Ich wünsche mir, dass die Menschen sich organisieren und gemeinsam etwas tun.

Haben Sie denn selbst noch Zeit für Sport?

Ich versuche zu Joggen und Rad zu fahren, mache leichtes Krafttraining. Man darf sich nicht überheben. Der Kopf weiß auch mit zunehmendem Alter, wie etwas geht, aber der Körper spielt immer seltener mit (lacht). Zum Glück bin ich gut geschneidert.

Es ist gerade oft von neuen Formaten in der Leichtathletik die Rede, Weltverbands-Präsident Sebastian Coe hat gar gesagt, man müsse auch die Struktur mancher Disziplinen hinterfragen. Sind sie offen dafür? Sie waren ja in der alten, etablierten Zeit der Leichtathletik aktiv.

Ich bin in vielen Sachen Traditionalist. Ich brauche zum Beispiel das Rascheln von Zeitungspapier oder eines Buchs. In der Leichtathletik ist das ähnlich. Die Wettkampfformen sind traditionell und gut, aber ich sehe natürlich auch, wie andere Sportarten es geschafft haben, aus einem Schattendasein heraus Trendsportarten zu werden. Darts zum Beispiel, wo in den Arenen eine wahnsinnige Stimmung ist. Die kommen jetzt nach Sindelfingen, kopieren das, und die Leute rennen da hin wie bekloppt. Unsere Sportart ist dafür sicherlich nicht in der Form geeignet, aber man muss schon darüber nachdenken, wie man noch präsenter und attraktiver wird.

Können Sie sich vorstellen, dass Berlin wieder Standort der Diamond League wird, der internationalen Wettkampfserie der Leichtathletik?

Wenn ich sehe, was die Standorte zahlen müssen, um Standorte zu sein - und Berlin ist gerade ja eher nicht so reich - ist das schwierig. Es ist insgesamt schade, dass wir viele Stadien für die Leichtathletik kaputtgemacht haben, das Stuttgarter etwa. Wir haben in Berlin und Nürnberg nur noch zwei Stadien, die für derartige Großveranstaltungen geeignet sind. Ich glaube, die Leichtathletik braucht in Deutschland mindestens ein großes Stadion wie in Berlin. Da müssen wir weiter dafür kämpfen, dass das so bleibt. Das ist vielleicht das Pech für die Berliner Fußballer, die gerade überlegen, das Stadion umzubauen. Ich denke, es wäre wirtschaftlich sinnvoller für die Hertha, an anderer Stelle ein neues Stadion zu bauen.

© SZ vom 19.11.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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