Nach rund einer Stunde hing der Lord dann doch in den Seilen. Eine Stunde lang hatten die Abgeordneten des britischen Parlaments Sebastian Coe bereits verhört, den Präsidenten des Leichtathletik-Weltverbands IAAF. Sie hatten gefragt, wie er sich einen sauberen Sport vorstelle, ob sein Verband sich in den vergangenen Jahren denn genug angestrengt habe in diesem Kampf, es waren Fragen, die Coe elegant abperlen ließ.
Als dann der Abgeordnete Ian Lucas nachhakte, ob Coe, einst immerhin langjähriger Vizepräsident der IAAF, nicht über manche Merkwürdigkeit gestolpert sei in einem von Blutdoping, Manipulationen und Korruption nachweislich zerfressenen Sport, da geriert Coe dann doch ins Schlingern. "Ich wusste, dass unser Sport ein Dopingproblem hatte." Warum er dann nicht nachgehakt habe? "Ich kannte das Problem, aber nicht die Details." Und die Korruptionspraktiken von Lamine Diack, seinem Vorgänger: War er da etwa unbeirrt, oder vergesslich? "Nicht vergesslich, aber ich habe nie etwas von spezifische Anschuldigungen mitgekriegt."
Warum er dann der richtige Mann sei, den Weltverband aus seiner schweren Krise zu lenken, wurde Coe gefragt. "Weil ich die Erfahrung habe, um das zu tun." Aha.
Dieser Mittwoch im britischen Parlament war ein schwerer Tag für Sebastian Coe, irgendwie passte es ins Bild, dass sein Kreuzverhör im Ausschuss für Kultur, Medien und Sport ziemlich genau 100 Tage stattfand, nachdem sie Coe in Peking ins Amt des neuen IAAF-Präsidenten gehoben hatten. Das britische Parlament hatte Coe für diesen Wahlkampf 63 000 Pfund (knapp 90 000 Euro) zugeschoben, derartige Wahlkampfspenden sind für Funktionäre in Großbritannien üblich. Aber die Abgeordneten waren zuletzt dann doch irritiert darüber, wie ihr neuer Leichtathletik-Präsident die Geschäfte während der ersten 100 Tage im Amt und davor geführt hatte.
ARD-Kriegserklärung gegen seinen Sport
Da war die Sache mit Lamine Diack, Coes Vorgänger, den der Brite in Peking noch als seinen "geistigen Präsidenten" geadelt hatte, der offenbar aber auch jahrelang positive Dopingtests gegen Geld hatte verschwinden lassen; Interpol ermittelt. Da war die Sache mit dem Sportartikelhersteller Nike, der dem Leichtathletik-Funktionär Coe jahrelang sechsstellige Beraterhonorare überwies, was Coe aber nicht als Interessenskonflikt deutete.
Da war auch die Sache mit der vom faulen Geruch umwehte WM-Vergabe an Eugene. Oder der Bericht einer Kommission der Welt-Anti-Doping-Agentur, die einen staatlich abgeschirmten Dopingmorast in Russland entdeckt hatte. Und da waren Berichte der Sunday Times und der ARD über tausende verdächtige Blutwerte, denen die IAAF jahrelang nachlässig oder gar nicht nachging, was Coe im Sommer als "Kriegserklärung an seinen Sport" deklariert hatte.
Jede Facette erzählte zuletzt eine Geschichte, fügt einen Stein ins große Mosaik eines Präsidenten, der in Momenten, in denen er Stärke beweisen musste, erschreckend schwach wirkte. Der Mittwoch im Parlament bildete keine große Ausnahme.
Die Abgeordneten vertieften sich zunächst in jene Vorwürfe, die ARD und Sunday Times im vergangenen Sommer vorgetragen hatten. Sie hatten 12 000 Blutwerte von 5000 Athleten aus einer Datenbank gehoben und einen massiven Dopingverdacht zwischen 2001 und 2012 formuliert. Seine Aussage der "Kriegserklärung" widerrief Coe am Mittwoch nicht. "Ich habe damals nur die unverantwortliche Interpretation der Datenbank angeprangert", sagte er.
Außerdem habe er die Journalisten damals um Kooperation gebeten. ARD-Redakteur Hajo Seppelt, der in London im Publikum saß, hob da die Hand, nein, nein, wollte er sagen, es gab keine Kontaktaufnahme. Coe befand jedenfalls, es sei "unverantwortlich", Blutwerte aus der Zeit vor 2009 zu nutzen, um Dopingstraftaten zu belegen. Was die IAAF in der Vergangenheit aber nicht daran gehindert hatte, Athleten auch mithilfe jener Daten zu sperren.
Wenn es brenzlig wurde, flüchtete sich Coe ins Ungefähre. Als er gefragt wurde, warum er sich bis heute nicht mit Julia und Witalij Stepanow getroffen habe, die vor einem Jahr der ARD vom russischen Systemdoping berichtet hatten ("Ich werde das noch tun"). Oder ob er wirklich nie Geflüster über Korruption gehört habe, obwohl er sich jahrelang in der IAAF und dem von Bestechung kontaminierten Fußball-Weltverband herumtrieb, bei letzterem als Ethiker ("nein, niemals"). Da wirkte Coe wie ein Offizier, der jahrelang auf einem schiffbrüchigen Dampfer unterwegs war, aber nie ein Leckt entdeckt haben wollte.
Oder ob er die Vergabe an Doha/Katar untersuchen wolle; Doha hatte sich im vergangenen Februar die WM 2019 gesichert, der Kenianer Isaiah Kiplagat, damals Mitglied im Council der IAAF, wurde fast zeitgleich vom katarischen Leichtathletikverband mit zwei Autos beschenkt, wie am Montag bekannt wurde. Oder warum ihm Ausrüster Nike bis zuletzt ein sechsstelliges Jahreshonorar überwies, während Coe dem Leichtathletik-Verband vorstand, als Präsident oder Stellvertreter.
Coe bekräftigte, dass ein Interessenskonflikt nur dann vorliege, wenn er im Verborgenen schlummere. "Der Lärm um diese Partnerschaft war nicht gut", sagte Coe, allein deshalb habe er seine Beratertätigkeit niedergelegt. "Sie wissen schon", sagte der Abgeordnete Jesse Norman, "dass ein Interessenskonflikt auch dann ein Konflikt bleibt, wenn man ihn öffentlich macht?"
Nein, das fand Coe nicht. Obwohl die BBC zuletzt eine Mail veröffentlicht hatte, die nahelegte, dass Coe bei Diack dafür geworben hatte, die WM 2021 ohne Bieterverfahren Eugene zu geben - jene amerikanische Kleinstadt, die mit Nike verwoben ist. Diack lehnte erst ab, verpflanzte die WM im April dann doch ohne Vergabeprozess an die Westküste. Hatte Nike nicht ein großes Interesse daran? Coe, der laut eigenen Angaben 38 Jahre lang mit Nike verbunden war, sagte: "Ich weiß es nicht."