Leichtathletik:In der neuen Welt

Lesezeit: 5 min

Philipp Pflieger vermarktet sich geschickt - indem er auch mal gegen eine U-Bahn um die Wette rennt. Beim Berlin-Marathon am Sonntag gehört er deshalb zu den bekanntesten Teilnehmern.

Von Johannes Knuth, Berlin

Philipp Pflieger hatte wenig zu verlieren und viel zu gewinnen. Er hatte vor einem Jahr endlich einen Termin bei einer bekannten Werbeagentur ergattert, Kundenstamm: Deutscher Fußball-Bund, Hertha BSC, Formel-1-Fahrer. Pflieger selbst hatte um die Audienz gebeten, vielleicht, dachte er, könne er die Agentur ja von sich überzeugen. Wobei er glaubte, dass sie ihn hinauskomplimentieren würden: Sorry, aber was wollen wir mit einem deutschen Marathonläufer, Nummer 250 der Welt?

Pflieger probierte es jedenfalls. Er wollte sich besser vermarkten, und wenn er etwas macht, dann richtig, so hatte er es immer gehalten. Er reiste also in die Firmenzentrale von Jung von Matt nach Hamburg, der Geschäftsführer hatte Pflieger noch eine SMS geschickt: Arne werde ihn empfangen. Wohl irgendein Mitarbeiter, dachte Pflieger. Als er eintraf, stand Arne Friedrich vor ihm, der ehemalige Fußballprofi, jetzt Experte für Markenbildung. Friedrich outete sich prompt als passionierter Ausdauerkönner: "Was ich während meiner aktiven Zeit wirklich gehasst habe", sagte er, "war Laufen." Pflieger schluckte. Und jetzt?

Philipp Pflieger. (Foto: Adrian Dennis/AFP/Getty)

Am Sonntag, ein Jahr später, startet Pflieger beim Berlin-Marathon. Der 30-Jährige bringt die beste Zeit der Deutschen mit, 2:12:50 Stunden. Er rangiert damit in dieser Saison nicht mal unter den besten 200 Läufern der Welt, aber das hat Pfliegers Bekanntheit kaum geschadet, im Gegenteil. Er ist präsent wie nie, in sozialen Medien, Zeitschriften, Werbeclips. In einer Zeit, in der sich Spitzensportler, vor allem Leichtathleten, vermehrt beklagen, sie bekämen zu wenig Förderung und Präsenz, verfolgt er einen in der Szene noch recht neuen Weg: den des Sportunternehmers, der vom Laufen mehr zeigen soll als das Laufen.

Es ist ein Modell ohne Verband, ohne Förderplätze bei Bundeswehr, Polizei und Zoll, es ist ein Modell, das die konventionelle Sportwelt ein bisschen herausfordert. Aber es funktioniert.

Ein paar Wochen nach seiner Audienz erhielt Pflieger wieder eine SMS von der Agentur: Ob man sich noch mal treffen wolle? Er hatte es geschafft. "Ich glaube, es geht ihnen weniger darum, ob ich 2:09 oder 2:12 Stunden laufe", sagt er heute. "Sondern eher: Wie erreichst du viele Menschen?" Eines der ersten Projekte war "Race the tube", Pflieger gegen eine Berliner U-Bahn, wer schafft die Kilometer zwischen zwei Haltestellen schneller? Sie engagierten eine achtköpfige Filmcrew, Pflieger filmte sich, während er lief. "Ich bin jemand, der gerne neue Sachen ausprobiert", sagt er. Er gewann. "Hätte ich ja noch chillen können", sagte er keck, als er als Erster im U-Bahnhof eintraf. 1,4 Millionen Menschen sahen zu, live bei Facebook.

Pflieger füttert mittlerweile seine digitalen Accounts täglich mit Fotos und Videos, 15 000 Menschen folgen ihm auf Facebook und Instagram, kein Vergleich zu den 300 000 mancher Fußballprofis. Aber immerhin. Bis zu vier Stunden investiert er täglich. Pflieger beim Burger-Essen, Pflieger in weißen Turnschuhen seines Ausrüsters, Pflieger mit ausgemergeltem Gesicht, nach 30 Kilometern Dauerlauf. Er macht fast alles selbst, er will nicht künstlich rüberkommen, oder dass ein Mitarbeiter versehentlich den Sponsorentext postet, der für den Account eines anderen gedacht war (wie beim Fußballer Marco Reus). Er tritt als Motivationsredner auf; wie man weitermacht, wenn es nicht mehr vorwärtsgeht, davon kann er viel erzählen. Ein Vortrag bringt ihm bis zu 2000 Euro ein. Er trifft sich mit Läufern, die ihn buchen und erfahren, wie man einen Marathon in drei Stunden läuft. Manche sagen ihm, dass sie es krass finden, dass er sich mit ihnen abgebe. Dann denkt er: "Für wen haltet ihr mich eigentlich? Ich erzähle ja nur meine Story. Aber viele scheinen was Positives daraus zu ziehen."

Der Marathon in Rio war der Knackpunkt, da habe sich sein Läuferleben geändert, sagt Pflieger. Er hatte zwanzig Jahre auf Olympia hintrainiert, auf der Bahn, auf der Straße, er war von Sindelfingen in die Läuferzelle nach Regensburg gezogen, wenn schon, dann richtig. Er war oft verletzt, bei seinem ersten Marathon in Frankfurt brach Pflieger zusammen, Filmriss, "da hätte ich fast das Handtuch geworfen, das hat mir Angst gemacht", erinnert er sich. Er kam zurück, lief 2:12:50 in Berlin, wurde 55. in Rio - aber das Kapitel Olympia war jetzt zu. Pflieger wollte weitermachen, aber nicht mehr viel opfern und wenig verdienen. Seine Sponsoren legten etwas drauf, er sprach bei der Agentur vor. "Wettkampfsport ist wichtig, aber letztlich wollen wir zeigen, dass wir auch Personen sind abseits des verbissenen Wettstreits um Sekunden", sagt Pflieger, das kann er gut vermitteln: "Da geht es eher um Laufen als Erlebnis, für die Gesundheit." Laufen als Gefühl.

Jagd durch Berlin

1 / 4
(Foto: Rainer Jensen/dpa)

Sechs Weltrekorde wurden von den Männern bislang in Berlin gelaufen - am Sonntag soll der siebte folgen. Die drei derzeit besten Marathon-Profis wollen die 2:02:57 Stunden des Kenianers Dennis Kimetto unterbieten, die dieser vor drei Jahren dort lief.

Jagd durch Berlin

2 / 4
(Foto: Wolfgang Kumm/AFP)

Der 32-jährige Eliud Kipchoge aus Kenia hat viel im Marathon erreicht, Olympiagold, Siege in Berlin und London - der Weltrekord fehlt noch (Bestzeit: 2:03:05 Stunden). Im Frühjahr lief er in Monza 2:00:25, unter irregulären Bedingungen.

Jagd durch Berlin

3 / 4
(Foto: Peter Cziborra/Reuters)

Der 35 Jahre alte Kenenisa Bekele aus Äthiopien, Weltrekordhalter über 5000 und 10000 m, Marathon-Bestzeit 2:03:03 Stunden, will sich ebenfalls die Bestmarke schnappen.

Jagd durch Berlin

4 / 4
(Foto: Alexander Hassenstein/Getty)

Aber auch der Kenianer Wilson Kipsang (bisherige Bestzeit: 2:03:23 Stunden) macht sich Hoffnungen.

Nicht allen gefällt das, seinem Trainer etwa. "Wir haben hier und da sicherlich Differenzen", sagt Pflieger, etwa, wenn er für einen Sponsorentermin spontan nach Berlin fliegt und das Training verschiebt. "Diese Termine gehören auch dazu", sagt er dann. Überhaupt kann er sich vorstellen, nach dem Sport im Marketing zu arbeiten. "Es gibt sicherlich Leute in der Szene, die halten mich für einen Selbstdarsteller, die sagen: Das ist nur noch Kommerz." Aber das stimme so ja nicht. Er läuft weiter professionell, 200, 220 Kilometer Training pro Woche, er will 2018 bei der EM in Berlin mitmachen und auf das Startgeld bei einem Stadtmarathon verzichten, eine niedrige fünfstellige Summe. Ihm steckt zudem bereits eine veritable Leistungssportkarriere in den Beinen, anders als bei den Hahner-Zwillingen, die das Konzept der Wir-AG seit einer Weile forsch prägen: Erst Geld durch Selbstvermarktung verdienen, dann Leistung bringen.

Pflieger mischt beides, die alte und neue Welt. Bis Rio schrieb er nach einer Saison ab und zu eine schwarze Null. Jetzt komme nach allen Ausgaben ein "sehr, sehr ordentlicher Gewinn raus", über dem Einstiegsgehalt eines Masterabsolventen. Auch, weil er einen Trend bedient, mit Laufen als Gefühl. "Viele Menschen wünschen sich, das eigene Ding durchzuziehen und damit glücklich zu sein", sagt der Sportpsychologe Christian Zepp. Pflieger macht das und lässt alle daran teilhaben. Sportler verstünden sich zunehmend als Marken, die nicht mehr im organisierten Leistungssport eingezwängt sein wollen, sagt Zepp. Das zeige sich auch daran, dass immer weniger Menschen in Vereine eintreten, dafür beim Marathon eine Grenzerfahrung suchen, nur für sich. Das zieht wiederum Ausrüster und Sponsoren an.

Pflieger kommt auch zugute, dass er neben dem deutschen Rekordhalter Arne Gabius eines von wenigen nationalen Aushängeschildern ist. "Der Wunsch nach deutschen Figuren hat sich sicher verstärkt", sagt Mark Milde, Renndirektor in Berlin. Während die traditionelle Stadion-Leichtathletik um Aufmerksamkeit ringt, "ist die Zahl der internationalen Athleten auf der Straße so groß geworden, da kenne selbst ich als Kenner nur noch die Hälfte", sagt Milde. Die Deutschen werden aber nicht nur besser und vermarkten sich offensiver, "sie fordern schon mal mehr Startgeld", hat Milde beobachtet. Immerhin sind sie billiger als Läufer wie Eliud Kipchoge oder Kenenisa Bekele (siehe Kasten), die rufen das Zehnfache auf.

Pflieger nimmt sich für Sonntag die EM-Norm vor, viel mehr aber nicht. "Ich will wissen, wo meine persönlichen Grenzen im Marathon liegen", sagt er. Den Verband? Braucht er nicht mehr, "unser Verhältnis ist quasi inexistent". Mit Platzierungen kann er nicht mehr viel anfangen. "Der Wert eines Großereignisses hat sich für mich definitiv gewandelt", sagt er. Mit 16, 17 war er "der größte Leichtathletik-Fan überhaupt", dann sah und hörte er viel: Korruption in den Verbänden, Konkurrenten, die aus dem Fenster springen, wenn die Dopingfahnder kamen. Zuletzt wurde er immer wieder gefragt, was er davon halte, wenn er am Sonntag mit den ganz Großen am Start stehe. Pflieger sagt dann: "Ich bin da mittlerweile relativ teilnahmslos."

© SZ vom 23.09.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken
OK