Leichtathletik:Neustart in Amsterdam

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Kronzeugin Julia Stepanowa, die einst den großflächigen Betrug in Russlands Leichtathletik freilegte, darf wieder starten- auch bei der EM in der kommenden Woche.

Von Johannes Knuth, München

Am Freitag ging dann plötzlich alles ganz schnell. Um 9.01 Uhr trudelte das Dekret des Leichtathletik-Weltverbandes IAAF ein. Kurz darauf erteilte auch der europäische Verband seine Zustimmung. Julia Stepanowa, die russische 800-Meter-Läuferin, die das staatlich abgeschirmte Systemdoping in ihrer Heimat aufgedeckt hatte, darf ab sofort als "neutrale" Athletin an internationalen Wettbewerben mitwirken, auch bei der EM in der kommenden Woche. Russlands Leichtathleten bleiben derweil von den gleichen Leistungsmessen ausgesperrt, kollektiv. Man schätze den außergewöhnlichen Beitrag, den Stepanowa für "die Integrität des Sports" geleistet habe, teilte der europäische Verband EAA mit. Stepanowa sei willkommen, sich für die Vorläufe über 800 Meter am Mittwoch einzuschreiben, für Montag haben sie mit ihr bereits eine Pressekonferenz einberufen. Sie wird unter europäischer Flagge laufen.

Es war zunächst einmal ein kraftvolles Signal, das am Freitag in die Welt ging: Der Sport, der seine Kronzeugen oft nur zähneknirschend würdigt und intern zutiefst verabscheut, hebt seine vielleicht größte Enthüllerin ins warme Licht der öffentlichen Anerkennung. "Whistleblower müssen gestärkt werden, denn sie werden zur Glaubwürdigkeit und Optimierung des Anti-Doping-Kampfes dringend gebraucht", sagte Alfons Hörmann, Präsident des Deutschen Olympischen Sportbundes. "Damit kommt zum Ausdruck, dass der Mut einer Athletin, Missstände in ihrem Sportsystem aufzudecken, honoriert wird", assistierte Clemens Prokop, Chef des Deutschen Leichtathletik-Verbandes. Nur aus dem Internationalen Olympischen Komitee (IOC), das entscheidet, wer zur größten Sport-Fachmesse zugelassen wird, drangen am Freitag dürre Worte. Man werde "sorgfältig prüfen", ob man Stepanowa die Zulassungspapiere für die Sommerspiele im August ausstellen könne. Das olympische Hausrecht sei halt etwas kompliziert.

Szene aus dem früheren Leben: Julia Stepanowa, damals noch unter ihrem Mädchennamen Rusanowa, im 800-m-Halbfinale bei der WM 2011 in Südkorea. (Foto: Rungroj Yongrit/dpa)

Womit noch einmal daran erinnert wurde, wie sehr sich die Sportfamilie gegen diejenigen stemmt, die die schmutzigen Geschäfte der Verwandtschaft enthüllen.

Stepanowa und ihr Mann Witali, ein ehemaliger Mitarbeiter der russischen Anti-Doping-Agentur (Rusada), hatten im Dezember 2014 in der ARD den Vorhang gehoben, hinter dem Russlands Leichtathleten den staatlich orchestrierten Betrug versteckten. Eine Kommission der Welt-Anti-Doping-Agentur (Wada) ging den Vorwürfen nach, sie bestätigte alles. Im November 2015 schloss die IAAF den russischen Verband kollektiv aus, wegen einer "tiefwurzelnden Kultur des Betrugs". Die Stepanows setzten sich in die USA ab, aus Angst; zwei hochrangige ehemalige Mitarbeiter der Rusada waren da bereits verstorben - Herzprobleme, ganz plötzlich. Stepanowa trainierte im Exil, gliederte sich wieder ins Anti-Doping-Testprogramm ein, nach monatelangem Gezerre verkündete die IAAF vor zwei Wochen schließlich: Russlands Verband bleibt gesperrt, auch für Rio, zu tief wurzele der Betrug. Ausnahmen werde man nur russischen Athleten gestatten, die zuletzt im Ausland gelebt haben. Und Kronzeugen wie Stepanowa. Ein Anti-Doping-Komitee der IAAF prüft seitdem, wer diese Hintertüren nutzen darf, Stepanowa war am Freitag die Erste, die hindurchgewunken wurde. Hinter ihr warten derzeit noch "mehr als 80 russische Athleten", um von den Ausnahmeregelungen zu profitieren, teilte die IAAF am Freitag mit. Die meisten dürften die strengen Auflagen nicht erfüllen.

Die warmen Worte, die am Freitag auf Stepanowa herabregneten, zeichnen freilich ein trügerisches Bild. IOC und IAAF schoben Stepanowas Anliegen lange vor sich her. Ihr Mann Witali erinnerte die olympische Familie Anfang Juni in einem eindringlichen Brief daran, dass seine Frau ihrem Beruf nicht nachgehen könne: Sie war ja von jenem russischen Kollektivbann belegt, den sie mit ihren Berichten erwirkt hatte. Und mit denen sie ihre Existenz aufs Spiel gesetzt hatte, klar. Er habe zudem gehört, schrieb Stepanow, dass manche Funktionäre seiner Frau "unaufrichtige" Motive unterstellen würden. Sprich: Stepanowas Enthüllungen seien politisch oder gar monetär motiviert gewesen. Sie hatten von der Wada tatsächlich Geld bekommen, allerdings als Kredit, 30 000 Dollar für die Zeit, als sie zwischen den Welten hingen. Mittlerweile, so Stepanow, habe er die Summe zurückgezahlt.

Thomas Bach, IOC-Präsident (Foto: AFP)

Es ist schon eine kuriose Situation, in die sich der organisierte Sport manövriert hat. Die IAAF, die für Stepanowa ihr Regelwerk umbaute, steht plötzlich als moralische Instanz da. Kleine Rückblende: Es war die IAAF, deren alte Führung jahrelang korrumpierte, überführte Doper erpresste und gegen Geld starten ließ; Sebastian Coe, der schwer angeknockte Präsident, soll davon womöglich frühzeitig unterrichtet worden sein. Und das IOC mit seinem Präsidenten Thomas Bach, das sich gerne mit der Sportmacht Russland gut stellt? Bach verfügte zunächst, dass russische Athleten in Rio unter der Obhut des russischen olympischen Komitees (ROC) starten sollen, nicht unter neutralem Banner, wie von der IAAF erwirkt. Es war ein verstecktes Manöver gegen Stepanowa, das ROC würde sie ja niemals nominieren. Am Donnerstag verwies Bach dann noch einmal auf das komplizierte Regelwerk. Dabei hätte er sich als olympischer Hausherr längst für einen Start Stepanowas positionieren können, wie jetzt die Europäer.

Die finale Entscheidung fällt Mitte Juli. Erst dann wird sich zeigen, wie ernst der Sport es wirklich mit seiner Wertschätzung für Kronzeugen meint.

© SZ vom 02.07.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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