Leichtathletik:Mit Mentaltrainer und Blutegeln

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Wendepunkt: Alexandra Burghardt gewinnt im vergangenen Sommer in Braunschweig ihren ersten Einzel-Titel bei den Aktiven im Freien. (Foto: Axel Kohring/Beautiful Sports/Imago)

Die Geschichte der Doppel-Meisterin Alexandra Burghardt zeigt, dass die wichtigste Eigenschaft einer Sprinterin manchmal die Ausdauer ist.

Von Johannes Knuth, Regensburg

Der zuckersüße Lohn des Erfolgs hat viele Formen, im Fall der Leichtathletin Alexandra Burghardt waren es zuletzt zwei Schweine aus Glas: ein Präsent der Stadt Burghausen, nachdem die 27-Jährige vor zwei Wochen von den nationalen Meisterschaften als zweimalige Titelinhaberin zurückkehrt war. In Braunschweig hatte sie über die 100 und 200 Meter reüssiert, über die kürzere Strecke sogar den Start für die Spiele in Tokio festgezurrt; es war ihr erstes Einzelmandat überhaupt für ein internationales Großereignis bei den Erwachsenen. Ihre Heimatgemeinde hatte bei einem Glasbläser also zwei Glücksbringer in Auftrag gegeben, erzählte Burghardt jetzt beim Meeting in Regensburg. Ansonsten, berichtete sie, wollten all die Sechs- bis Zwölfjährigen, die sie in ihrem Verein trainiert, der LG Gendorf Wacker Burghausen, "jetzt auch alle zu Olympia". Da habe sie einen ganz schönen Berg an Arbeit vor sich. Aber die lokale Glasbläserindustrie würde sich vermutlich freuen.

Man hatte in den vergangenen Jahren einigen Athletinnen zugetraut, ein solches Sprint-Double zusammenzuknüpfen, Gina Lückenkemper oder Tatjana Pinto etwa. Aber die langjährigen verdienten Mitarbeiterinnen sind noch immer im Krankenstand oder nicht bei voller Schaffenskraft, rund fünf Wochen, bevor die olympische Leichtathletik loslegt. Und nun also: Burghardt, die Doppelmeisterin, über die 100 Meter sogar in 11,14 Sekunden, eine beachtliche Bestzeit? Sie bezwang in Braunschweig sogar die Jahresschnellste Lisa Mayer (11,12), die in Regensburg 11,16 Sekunden nachlegte, während Burghardt sich den 200 Metern widmete in 23,00 Sekunden, schon wieder Bestleistung. Manchmal glaubte man in Regensburg noch immer das Echo jener Jubelschreie zu hören, die Burghardt in Braunschweig abgesetzt hatte.

Wer so reagiert, muss eine Weile durch die dunklen Kellerabteile des Leistungssportlerdaseins geirrt sein. Und tatsächlich handelt ihre Geschichte auch davon, dass die wichtigste Gabe eines Sprinters manchmal die Ausdauer ist.

Burghardt war immer eine verlässliche Kraft ihres Berufsstandes, wie eine Orchestergeigerin am vierten Pult, die das Publikum eher selten wahrnimmt, aber ohne die kein voller Klang reifen kann. Sie war vor allem in den 4x100-Meter-Ensembles eine gefragte Mitspielerin, gut in der Kurve, verlässlich beim Wechsel. Sie gewann 2011 EM-Gold mit dem U20-Quartett, ein Jahr darauf WM-Silber; über 100 Meter wurde sie 2016 deutsche Meisterin in der U23, bei der U23-EM sogar Zweite hinter Rebekka Haase. Ihre Bestzeit stand bis zuletzt bei 11,32 Sekunden, gut, aber nicht virtuos genug für die großen Solistenparts. 2016, bei ihren ersten Sommerspielen, durfte sie nicht mal mehr in der Staffel mitwirken ("Das war schlimm"), sie zog von Mannheim und Trainer Valerij Bauer zurück nach Burghausen, ihr Verein unterstützte sie so gut es ging. Doch Burghardt verhedderte sich mehr und mehr in einem Kreislauf: Sie kurierte kleinere Verletzungen nicht aus, wollte bloß nicht wieder den Staffelplatz verlieren, doch so war sie erst recht nicht wettbewerbsreif. Bis sie irgendwann feststellte: "Man kann nicht erwarten, einen anderen Output zu generieren, wenn man immer das Gleiche macht."

Im Herbst 2019 traf sie auf Patrick Saile, damals Landestrainer am Stützpunkt in München; ein Schwabe, dessen ruhige Art wieder Ordnung in den aufgewühlten Trainingsalltag brachte. Ehe die Kooperation zur Blüte reifte, musste Burghardt sie aber erst mal einfrieren: Sie litt noch immer an Schmerzen, mal die Patellasehne, mal der Rücken, manchmal konnte sie nicht mal ihre Schuhe anziehen. Hätten die Spiele in Tokio im vergangen Jahr planmäßig stattgefunden, Burghardt wäre wohl wieder von ihrem Schmerzenskreislauf verschluckt worden.

Eine Überraschung? Mitnichten, findet Burghardt. Es komme jetzt alles zusammen

So hatte sie plötzlich Zeit für ein Sabbatical: Sie beschloss, erst wieder einen Laufschritt zu wagen, sobald alle Schmerzen aus dem Körper getrieben waren. Begann eine Therapie mit Blutegeln gegen die Schmerzen. Stärkte den Körper mit Crossfit, einem Hybrid aus Krafttraining und Turnen. Wagte die ersten Laufschritte. Baute erst dann mit ihrem Trainer den Laufstil wieder zusammen, wie man sich noch besser aus dem Startblock abdrückt etwa, mit dem Schienbein fast parallel zum Boden. Blieb gesund. Arbeitete mit ihrem Mentaltrainer daran, ihr Wirken nicht in Bezug zu anderen zu setzen, sondern im Rennen bei sich zu bleiben. Tilgte schon beim Saisonbeginn ihre sechs Jahre alte Bestzeit, in 11,29 und 11,25 Sekunden. Und dann der Hingucker in Braunschweig, der Burghardt nur noch mäßig überraschte: "Es kommt jetzt alles zamm", findet sie, was im bayerischen Idiom noch mal viel leichter dahingetupft klingt, als es ist.

Wer so viel mitgemacht hat, lässt einiges hinter sich, auch die Zweifel im vergangenen Winter, als sie eigentlich keine Sporthallen betreten durfte: Die waren ja zu, wegen Corona. Und Ausnahmen gab es nur für Kader- und Profisportler, ein Bürgerprivileg, um das Burghardt nach ihren vielen Verletzungen zittern musste. "Da hab' ich Glück gehabt, da gab es ein paar Leute im Hintergrund, die sich für mich eingesetzt haben", sagt sie heute; vor allem im Bayerischen Leichtathletik-Verband. Ferne Erinnerungen, auch die Post von der Sporthilfe, die im Dezember hereinflatterte: Man wolle sie gerne verabschieden, sie würde ja bald ihre Karriere beenden. Burghardt antwortete, dass sie "noch Großes vorhabe".

Und jetzt also tatsächlich: die erste Geige, im Einzel und mit der Staffel in Tokio. Mit letzter lief sie in Regensburg schon wieder 42,38 Sekunden, noch nicht einmal mit voller Kraft. Eine Medaille im Quartett sei ja "seit mehreren Jahren überfällig", sagte Burghardt danach, sie meinte: bei Weltmeisterschaften oder Olympia. "Aber dafür muss alles passen". Immerhin: Wenn jemand mittlerweile Erfahrung mit diesem Leistungspuzzle hat, dann sie.

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