Leichtathletik:In die Luft geklettert

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"Das war befreiend." - Alexandra Wester vor zwei Wochen in Berlin bei ihrem Satz auf 6,95 Meter. (Foto: Jens Wolf/dpa)

Dank Trainer Charles Friedek hat Alexandra Wester sich auf den Weg in die Weitsprung-Elite gemacht. In Rio könnte sie groß herauskommen.

Von Johannes Knuth

Die Weitspringerin Alexandra Wester erinnert sich noch ganz gut an diesen Trainingstag im vergangenen Herbst. Wester war gerade von Mainz nach Köln migriert, als junge, begabte aber oft verletzte Athletin, die mal flüchtig in der deutschen Weitsprung-Elite hospitiert hatte. Sie hatte sich Charles Friedek angeschlossen, dem ehemaligen Dreisprung-Weltmeister, jetzt Trainer beim ASV Köln. Wester erinnert sich also noch gut an diese Trainingseinheit. Wie sie über ihre Ziele für die kommende Hallensaison referierte. Und wie Friedek rätselte, ob diese junge Athletin es gerade ernst meinte oder ob sie ihn verschaukelte.

Die Leichtathleten bereiten sich gerade auf die ersten Leistungsmessen des Olympiajahres vor, auf die deutschen Hallen-Meisterschaften am Wochenende in Leipzig, auf die Hallen-WM Mitte März in Portland/Oregon. Und diese Hallensaison hätte für die Weitspringerin Alexandra Wester, 21, durchaus schlechter verlaufen können. Vor zwei Wochen landete sie in Berlin bei 6,95 Metern. Sie schob sich nicht nur an die Spitze der (noch nicht allzu aussagekräftigen) Weltbestenliste, sie hat auch ihre Bestmarke aus dem Herbst um knapp einen halben Meter ausgebaut. Es wäre mittlerweile fast überraschend, wenn Wester am Sonntag in Leipzig nicht den Weitsprung gewinnt. Die Zutrittsberechtigung für die Hallen-WM hat sie in Berlin ebenfalls erworben. So, wie sie es ihrem skeptischen Trainer angekündigt hatte, damals beim Training im Herbst.

"Zuletzt war echt einiges los", sagt Wester, sie lacht.

Wester hat sich binnen Wochen von einer unbekannten Athletin in ein Gesicht des Sport-Mainstreams verwandelt. Es war nur ein Sprung, dieser Satz in Berlin, der ihre Karriere in eine neue Richtung lenkte. 6,95 Meter sind eine mächtige Weite, in Deutschland sind nur zwei Frauen jemals weiter gesprungen, Heike Drechsler (7,37/1988) und Helga Radtke (7,09/1985). Derart nackte, mächtige Zahlen schaden oft mehr, als sie helfen, die Athleten schleppen sie als Last mit sich herum, weil die außergewöhnliche Weite plötzlich zum gewöhnlichen Maßstab wird. Und Wester? Ihr Flug auf 6,95 Meter, sagt sie, "war befreiend". Wester war bislang ja oft verletzt gewesen, hatte das Getuschel und Geraune gehört. "Jetzt einfach mal zu zeigen, dass ich gesund bleiben kann und was ich drauf habe - da ist eine Menge Druck abgefallen", sagt sie. "Für mich war es viel schwerer, mich die letzten Jahre beweisen zu müssen, während die Leute denken: Da wird doch eh nichts mehr draus."

Westers Krankenakte ist für ihr Alter prall gefüllt. 2011 stürzte sie im Training, Kreuzbänder und Menisken im linken Knie rissen, Totalschaden, mit 16. Immer, wenn sie, damals Mehrkämpferin, fast genesen war, verletzte sie sich erneut. Es ist gar nicht so einfach, dem Sport treu zu bleiben, wenn einen die große Liebe immer wieder enttäuscht. Wester gab also den Siebenkampf auf, widmete sich dem Weitsprung, es folgten zarte Erfolge, neue Rückschläge. Ehe sie nach Köln wechselte, zu Friedek.

Zerlegt, geölt, neue Teile: Westers Sprungsystem wurde überholt wie ein Motor

Friedek war erstaunt vom Selbstbewusstsein seiner Schülerin, aber er stellte rasch fest, welches Potenzial sie mitbrachte. Wie bei einem starken Motor in einem Auto, dem die Feinabstimmung fehlt. Sie zerlegten Westers Sprungsystem, ölten es, beschafften neue Teile, bauten es wieder zusammen. Wester läuft jetzt länger und flüssiger an. Sie gerät beim Absprung nicht mehr in Rücklage (und springt eher hoch statt weit), sie schiebt die Hüfte nach vorne, klettert in die Luft, mit viel Vorwärtsschub. Sie trainiert kaum noch mit schweren Gewichten, "dadurch habe ich nicht mehr dieses große Muskelwachstum und die Muskelverkürzung", sagt sie, "ich bin viel flexibler als früher". Friedek war kurz skeptisch, "aber ihm ist es wichtig, dass wir auf Augenhöhe trainieren", sagt Wester: "Der Athlet sollte seinen Körper so kennen, dass er da mitreden kann."

Wester fühlte sich schnell wohl in Köln, vermutlich auch, weil der Trainer Friedek in Wester einige Charakterzüge des ehemaligen Dreispringers Friedek entdeckte. Sie setzen im Training auf Austausch, Wester besitzt auch eine B-Trainerlizenz. Sie orientieren sich beide an Weiten statt an Titeln, "dann kommt das, was man draufhat, schon raus", sagt sie. Sie hat ein robustes Selbstvertrauen, wasserdicht gegen alles, was den Glauben aufweicht. Wester hat ein Jahr in Miami studiert, jobbte als Fitnesstrainerin, warb um Kunden, leitete Kurse, eine Stunde lang am South Beach. Sie lernte, sich in neue, fremden Situationen zurechtzufinden. Vermutlich stärken sie die jüngsten Erfolge tatsächlich mehr, als dass sie ihr Kraft rauben. "Meine Ziele ändern sich ja nicht", sagt sie. "Ich habe mir schon vor drei Jahren vorgenommen, in Rio zu starten. Das einzige, was sich geändert hat ist, dass auch mein Umfeld das jetzt als deutlich realistischer einstuft."

Wester, Mutter aus Ghana, Vater Deutscher, verfügt über das Potenzial, in eine wichtige Rolle im Sommer hineinzuwachsen. Jede Olympia-Auswahl braucht ein paar Athleten, die mit ihrer Freude an der Leistung einen kleinen Sog entfachen, der andere mitzieht. Sie wird bewusst ein paar Trainingstage opfern, um bei der Hallen-WM in Portland zu starten; die erste Großveranstaltung ähnelt ja immer ein bisschen einem Praktikum in einem Großkonzern, das einen erst mal überfordert. Und dann? "Ist es mein Ziel, die 6,90er-Weite zu bestätigen", sagt sie unerschrocken. Vermutlich kann eine Athletin tatsächlich so schnell nichts mehr schrecken, die zuletzt eine fiesere Probe bestanden hat als die einer interkontinentalen Leistungsschau: die Aufnahmeprüfung an der Sporthochschule Köln.

© SZ vom 27.02.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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