Leichtathletik:Große Anstrengungen für leere Tribünen

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Kritik an den Kollegen: Im Gegensatz zu einigen nimmt Johannes Vetter allerlei Verrenkungen auf sich, um in Braunschweig mitzumachen. (Foto: imago images/Beautiful Sports)

Dass sich etliche Spitzenkräfte für die deutschen Meisterschaften abgemeldet haben, sorgt für Verstimmung im Verband. Selbst von einigen Kollegen gibt es Kritik.

Von Johannes Knuth, Braunschweig

Jürgen Kessing ist nicht nur Präsident des Deutschen Leichtathletik-Verbandes (DLV), sondern auch Oberbürgermeister von Bietigheim-Bissingen, und als solcher muss er natürlich immer auch das große Ganze im Blick haben. "Die ganze Leichtathletik-Welt schaut auf Braunschweig", prophezeite Kessing zuletzt mit Blick auf die deutschen Meisterschaften, die an diesem Wochenende in Niedersachsen anstehen. Denn der DLV, so Kessing, sei ja einer von ganz wenigen Verbänden in der olympischen Kernsportart, der in Corona-Zeiten nationale Titelkämpfe anberaumt habe. Wobei allein in Europa am Wochenende auch, nun ja, Portugal, Tschechien, Rumänien, Litauen, Griechenland, Ungarn, Kroatien, Bulgarien, Estland und Lettland ihre nationalen Vollversammlungen ausrichten; Frankreich und Großbritannien wollen bald nachziehen. Aber gut: Wenn man allein auf die Absage der US-Titelkämpfe schaut, dann ist so eine Corona-Meisterschaft tatsächlich "nicht selbstverständlich", wie Kessing betonte.

Zumal die Planungen durchaus von der einen oder anderen Debatte begleitet wurden. Und die eine oder andere könnte durchaus auch noch ins Wochenende schwappen.

Als der DLV im Juni das Konzept für seine Meisterschaften vorlegte, sprach er selbstbewusst von einem "Leuchtturm-Projekt". Das verärgerte vor allem die Langstreckenläufer, deren Disziplinen nicht im Programm aufschienen. Der Verband bat um Nachsicht, die strikten Corona-Verordnungen der Politik erforderten große Vorsicht, vor allem bei den kontaktintensiveren Laufwettbewerben. Nach heftigen Protesten sicherte der DLV zu, die Läufer einzugliedern, sollten sich die Vorschriften in Niedersachsen lockern. Das taten sie, und so haben die Braunschweiger nun doch fast alle etatmäßigen Disziplinen im Programm, die Staffeln ausgenommen. Noch erfreuter waren sie freilich, als Kassel, der planmäßige Austragungsort der Titelkämpfe 2021, zuletzt seinen Platz räumte, um den Niedersachsen im nächsten Jahr eine weitere Ausrichtung zu ermöglichen - dann womöglich vor Publikum. "Sehr dankbar" sei man dafür, sagte Braunschweigs Oberbürgermeister Ulrich Markurth.

Beim Hygienekonzept ließen sich Verband und Gastgeber von den strikten Konzepten der Fußballer und Basketballer inspirieren: Wer sich auf dem Stadiongelände bewegt, muss Masken tragen und Abstand wahren, die knapp 500 Teilnehmer werden gestaffelt hereingebeten, Startferfelder sind begrenzt, Zuschauer sind ausgesperrt. ARD (Samstag, 17 Uhr) und ZDF (Sonntag, 16.30 Uhr) übertragen zumindest live. Einen finanziellen Gewinn erwarte man nicht, sagte Kessing, bei einer Absage hätte aber ein hoher, sechsstelliger Verlust gedroht. Dann hätten die Verbandssponsoren, in Ermangelung einer adäquaten Bühne, wohl Regressansprüche angemeldet.

Vermutlich waren sie im Verband nach all den Anstrengungen auch deshalb ein wenig verschnupft, als sich zuletzt immer mehr Spitzenkräfte für das Wochenende abmeldeten. Man habe sich monatelang um den Sport gesorgt, der Bund habe finanzielle Hilfen bereitgestellt, sagte der Speerwerfer Johannes Vetter der Deutschen Presse-Agentur, in einer Art Klassensprecher-Rolle: Da sei es "nicht nachvollziehbar, dass manche Athleten die Meisterschaften aus nicht eindeutigen Gründen absagen". Im Grunde haben die Topkräfte dort Präsenzpflicht, allerdings in erster Linie, um ihre Nominierung für ein Großereignis abzusichern. Das fällt in diesem Jahr bekanntlich weg.

Tatsächlich sind die Gründe für die Abmeldungen vielschichtig: Viele Athleten kurieren lieber Verletzungen aus, andere wurden Väter (Thomas Röhler), mussten Reisebeschränkungen beachten (Konstanze Klosterhalfen), stiegen später in die Saison ein (Gina Lückenkemper) oder gestanden, dass sie keine Lust auf die Geisterkulisse haben (Christina Schwanitz). Hürdenläuferin Pamela Dutkiewicz gab in einem Interview mit der WAZ zu, dass der DLV sie kurzfristig zum Start ermutigt habe und sie dem Verband für seine Bemühungen auch etwas zurückgeben wolle, auch wenn sie nicht in Bestform sei. Damit dürfte sie nicht allein sein; viele Bundesländer hatten den Athleten mal früher, mal später eine Rückkehr in den Trainingsbetrieb gestattet.

Es sei nun mal eine "spezielle Saison, in der wir auf viele Dinge Rücksicht nehmen müssen", sagte Chef-Bundestrainerin Annett Stein diplomatisch. Sie erwartet in Braunschweig trotzdem "ansprechende Felder", und viele Athleten machten zuletzt auch deutlich, dass sie diese seltene Wettkampfgelegenheit in einer weitgehend leergefegten Saison sehr schätzen. Vor allem über 100 Meter der Männer war zuletzt ein vitaler Wettstreit entbrannt, zwischen dem deutschen Hallenmeister Deniz Almas (23 Jahre, 10,08 Sekunden), Joshua Hartmann (21/10,14) und dem nationalen Rekordhalter Julian Reus (32/10,24).

Eine weitere Absage traf derweil überraschend am Freitag ein: Jackie Baumann, gerade erst mit neuer Bestzeit über 400 Meter Hürden (55,53 Sekunden) in die Saison gestartet, hat mit sofortiger Wirkung ihre Karriere beendet. Ihr sei der Spaß am Sport abhandengekommen, sagte die 24-Jährige; vor Wettkämpfen habe sie an Schlafstörungen gelitten und überhaupt großen mentalen Stress verspürt. Das habe sie trotz professioneller Hilfe nicht abfedern können. Es war eine Absage, die Cheftrainerin Stein "großen Respekt" abverlangte.

© SZ vom 08.08.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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