Leichtathletik:Frühlingsgefühle in Long Beach

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22,13 Meter: Olympiasieger Ryan Crouser eröffnet die Saison in Doha mit einer Top-Weite. (Foto: Charlie Neibergall/AP)

Die Saison ist noch jung, viele Leichtathleten sind trotzdem schon in starker Form - wie der amerikanische Kugelstoßer Ryan Crouser, der sich gerne dem Gewöhnlichen entzieht.

Von Johannes Knuth

Wer Ryan Crouser näher kennenlernen möchte, schaut am besten in sein Badezimmer. Oder fragt ihn danach, falls sich ein Besuch beim besten Kugelstoßer der Welt, der im kalifornischen Chula Vista residiert, doch nicht ganz so spontan einrichten lässt. Crouser würde dann vermutlich freimütig erzählen, dass er die großen Ziele in seinem Leben schon immer auf dem Badspiegel markiert hat - früher auf Notizzetteln, weil seine Mutter es hasste, wenn der Sohn mit Filzstiften auf den Spiegel kritzelte. Mittlerweile hat Crouser sein eigenes Domizil bezogen, in dem er so viel herummalen kann, wie er will. Im vergangenen November, Crouser hatte gerade das Training für die aktuelle Saison aufgenommen, vermerkte er mit Filzstift also eine neue Zahlenkombination auf dem Spiegel: 23,13. Das ist ein Zentimeter weiter als der Weltrekord der Männer; eine jener Bestmarken des Kommerzsports, die nicht von dieser Welt wirken.

"Früher habe ich gedacht, dass ich das nur schaffen kann, wenn ich einen Stoß perfekt treffe", hat Crouser kürzlich dem US-Olympiasender NBC erzählt, "aber jetzt fühlt es sich mehr und mehr realistisch an". Als sei nichts Besonderes dabei, sich dem Gewöhnlichen zu entziehen.

Die Leichtathleten brechen gerade in die neue Saison auf, und nach dem ruhigeren Vorjahr ohne interkontinentalen Saisonhöhepunkt lässt sich schon mal festhalten: Viele scheinen die Weltmeisterschaften kaum erwarten zu können, als seien sie von sportiven Frühlingsgefühlen beseelt, auch wenn die große Titelmesse erst Ende September steigt. Aber es hilft ja nichts: Der Katarer Abderrahman Samba absolvierte die 400 Meter Hürden zuletzt schon in 47,51 Sekunden, Michael Norman aus den USA rauschte über 400 Meter in 43,45 Sekunden durch die milde Frühlingsluft von Torrace, Kalifornien. Und dann war da Crousers Auftritt am Ostermontag: Er reiste in seinem Truck zu einem Meeting in Long Beach, stieß dann 22,73 und 22,74 Meter, so weit war seit 1990 niemand mehr gekommen. Randy Barnes aus den USA hatte damals den Weltrekord erschaffen, jene 23,12 Meter, die Crouser zumindest auf seinem Badspiegel schon übertroffen hat.

"Ich bin total happy, meine Vorbereitung war alles andere als ideal", sagte Crouser nach dieser Oster-Ouvertüre, die vielen Sachverständigen die Sinne vernebelt hatte. Dabei sei ihm vor sechs Wochen erst ein Brustmuskel gerissen, sagte Crouser, er habe danach kaum richtig trainiert. Wobei so eine Pause dem Körper oft ja besser bekommt als noch mehr Schinderei. Beim Diamond-League-Auftakt in Doha gewann Crouser nun jedenfalls mit 22,13 Metern, nach einer 20-stündigen Anreise. Was passiert eigentlich, wenn seine Vorbereitung mal halbwegs normal verläuft?

Nach Crousers 22,74 Metern sagte ein Teamkollege: "Das ist der saubere Weltrekord"

Der 26-Jährige ist einer dieser Athleten, die gemessen an ihren Verdiensten längst zur Elite ihrer Zunft zählen und doch selten wahrgenommen werden. Das liegt zum einen daran, dass das Kugelstoßen, diese Maximalbeschleunigung sehr großer Menschen in einem sehr kleinen Ring, selbst im Gewusel der Leichtathletik schnell untergeht. Zum anderen hat man bei Crouser, 2,00 Meter groß, 140 Kilo schwer, oft den Eindruck, dass er gerade erst loslegt - der nächste große Wurf scheint immer kurz bevorzustehen. Als er vor drei Jahren in Rio Gold gewann, knöpfte er einem gewissen Ulf Timmermann gleich mal den olympischen Rekord ab, mit 22,52 Metern. "Ich habe früher tonnenweise Videos von ihm geschaut", berichtete Crouser später, niemand sei technisch so edel durch den Ring geglitten wie Timmermann. Wobei Crouser längst auf die noch dynamischere Drehstoßtechnik umgestiegen ist. Timmermann war in den Achtzigerjahren jedenfalls auch tief ins DDR-Doping verstrickt, in den Akten waren für ihn hohe Steroid-Dosen vorgemerkt (die Timmermann nie konsumiert haben will). Barnes wiederum wurde nach seinem Rekord positiv getestet, ebenfalls auf Steroide. Als sich die Kunde von Crousers Weite zuletzt verbreitete, befand Teamkollege Darrell Hill: "Das ist der saubere Weltrekord."

"Sagen wir mal so", entgegnete Crouser: Viele Kugelstoßer würden es gerne sehen, wenn er den offiziellen Weltrekord übernehmen würde. Wobei auch Crouser schon die branchenüblichen Zweifel spürte. Als David Storl, der beste deutsche Stoßer, in Rio gefragt wurde, wie Crouser seine Bestleistung innerhalb kurzer Zeit um fast eineinhalb Meter habe steigern können, sagte Storl: "Ich kann's mir nicht erklären." Crouser sagte damals, er habe sich erstmals richtig aufs Stoßen fokussiert, nach vielen akademischen Verpflichtungen.

Der Amerikaner wird das Gegrummel verkraften können, das auch in der Heimat mittlerweile mit der gestiegenen Aufmerksamkeit einhergeht. Ansonsten wird seine Biografie gerade so ausgeleuchtet wie bei allen Athleten, die nicht in den großen US-Sportligen beschäftigt sind: übers Persönliche. Crousers Vater und Onkel waren einst hochbegabte Werfer, vermerken die Reporter pflichtbewusst, der Sohn wäre 2016 beinahe Footballer bei den Indianapolis Colts geworden, wollte aber erst noch nach Rio - wo er gewann. Ansonsten vertreibe er sich die Zeit mit der Fischerei und dresche, warum auch immer, mit einem Vorschlaghammer auf Lebkuchenhäuser oder Christbaumschmuck ein; die Videos dazu stellt er im Netz aus. Und nach seinen 22,74 Metern habe er sich einen Tortilla mit schwarzen Bohnen und Reis gegönnt, später ein halbes Dutzend Sonnenbarsche geangelt.

Mehr Extravaganz war erst mal nicht drin. Vermutlich, weil Ryan Crouser weiß, dass der ganz große Wurf noch kommt.

© SZ vom 08.05.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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