Leichtathletik:Frühform im Spät­sommer

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Einige Leichtathleten profitieren auch von der Corona-Auszeit: zum Beispiel Hürdenläuferin Jackie Baumann.

Von Johannes Knuth, Regensburg

Die Zeit kann eine große Gehilfin sein, sie spült manch schwere Erinnerung aus dem Gedächtnis, aber im Fall der Olympischen Spiele von Rio de Janeiro ist das vermutlich bis heute so eine Sache. Die Gastgeber hatten sich damals schwer übernommen, Athleten meckerten über leere Stadien, die Sicherheitslage, bröckelnde Unterkünfte, und das Essen erst! Jackie Baumann aber, die damals etwas unerwartet in dieses Großereignis gestolpert war, wollte davon nichts wissen. "Es gibt hier viele Beschwerden, die ich nicht teile", sagte die damals 21-Jährige, nachdem sie im Vorlauf über 400 Meter Hürden ausgeschieden war: "Es gibt jeden Tag genug zu essen, 24 Stunden lang! Man kann den ganzen Tag essen! Und wir kriegen immer ein Shuttle. Was will man denn mehr als Athlet?"

Das war vor ziemlich genau vier Jahren, und in einer idealen Welt würde die Hürdenläuferin Jackie Baumann von der LAV Stadtwerke Tübingen jetzt nicht mehr in der Rolle der Debütantin stecken, die mit großen Augen durch diese merkwürdige Olympiawelt zieht - sondern in der einer Sportlerin, die, wie sie es formuliert, vieles gezielter anpackt, bei den Sommerspielen in Japan und überhaupt. Wäre da nicht die Corona-Pandemie, die Olympia ins nächste Jahr gedrängt hat. Statt in Tokio fanden sich die Leichtathleten jetzt auf der Städtischen Sportanlage in Regensburg ein, ohne Zuschauer, dafür mit Abstandsgebot und zwei Gewitterstürmen. Ansonsten war es schon wieder ein recht gewöhnliches Meeting mit außergewöhnlichen Leistungen, etwa Baumanns 52,83 Sekunden über 400 Meter. Erst vor einer Woche hatte sie ihre Bestzeit auf ihrer Spezialstrecke, den 400 Meter Hürden, auf 55,53 Sekunden gedrückt, schneller war seit zehn Jahren keine Deutsche mehr gewesen. Ob sie das in einem Sommer mit Sommerspielen auch so zeitig geschafft hätte? "Für mich ist es sicherlich nicht so schlecht", sagte Baumann, "noch ein Jahr gewonnen zu haben."

Nach Verletzungspausen wieder schnell unterwegs: Jackie Baumann. (Foto: Beautiful Sports/imago images)

Das hört man auch oft in diesen Tagen: dass Corona nicht bloß Ungewissheit sät, sondern für viele Athleten, was ihre Leistungen angeht, so etwas wie ein Geschenk ist.

Bei Baumann muss man da etwas zurückspulen: zu ihrem ersten deutschen Meistertitel 2015, zu Olympia 2016, der WM 2017, es ging erst mal immer bergauf. Dann meldete sich die Achillessehne, ein Wadenbeinbruch folgte, 2019 schmerzte wieder die Sehne - erst ein Schweizer Orthopäde habe sie schmerzfrei bekommen. "Die größte Lehre der letzten drei Jahre war sicher, dass man eine Zeit lang hinterherlaufen kann", sagte sie in Regensburg, "der Körper aber die Möglichkeit hat, zurückzukommen und sogar besser zu werden." Sie könne auch noch mal neue Dinge probieren, etwa das Duell mit der stärkeren nationalen Konkurrenz über 400 Meter - ohne Hürden wohlgemerkt. Das gewann in Regensburg zwar Corinna Schwab in 52,46 Sekunden, dann kam aber schon Baumann, vor Spezialistinnen wie Ruth Sophia Spelmeyer (52,91). Schneller als 53 Sekunden war die 24-Jährige zuvor auch noch nicht gewesen.

Baumann hatte schon früh ein Lehramtsstudium aufgenommen, Sport und Geschichte, und man spürt, dass ihr diese Perspektive zuletzt auch nicht gerade geschadet hat. Der Sport werde sie immer prägen, sagte sie, aber sie könne auch die Zeit jenseits des Leistungsbetriebs genießen, im Gegensatz zu manchen Kollegen: "Man schafft Platz für anderes, man lernt sich selbst noch mal viel besser kennen, nicht nur als den Athleten." Eine Lehre? Nach dem Sport sei es ja nicht so, dass das Leben aufhöre, sondern erst anfängt.

Ebenfalls flink zurück: Rebekka Haase. (Foto: Beautiful Sports/imago images)

Es klingt manchmal abgegriffen, wenn Athleten davon reden, ihren eigenen Weg gehen zu wollen, aber bei Baumann hat das immer eine spezielle Dimension. Nicht viele Leichtathleten haben Väter, die Olympiasieger waren und von Zahnpasta-Dopingaffären umtost wurden. Jackie Baumann hatte entsprechende Nachfragen schon bei ihrem ersten nationalen Titel vor fünf Jahren souverän pariert: "Ich bin extrem stolz darauf, was mein Dad geschafft hat", sagte sie, er sei ein Vorbild, mehr aber auch nicht. Ihre Eltern nehmen sich bis heute zurück, Mutter Isabelle trainiert sie noch immer, aber das war stets die Entscheidung der Tochter. Meist konsultieren sie noch eine Art Co-Piloten, derzeit ist es der Schweizer Laurent Meuwly, der auch Lea Sprunger trainiert, die 2018 in Berlin EM-Gold über die Langhürden gewann. Dort will auch Baumann mittelfristig hin: in ein internationales Finale, vielleicht schon 2021 in Tokio. Die Norm (55,40) wolle sie noch in diesem Jahr laufen, sagt sie, für den Kopf, auch wenn das Qualifikationsfenster für Tokio erst im Dezember wieder öffnet. In Carolina Krafzik ist ihr dabei auch national eine starke Konkurrentin erwachsen.

Vielleicht wird dieser merkwürdige Sommer 2020 ja sogar mal ein Sprungbrett für Größeres, nicht nur für Baumann. Viele deutsche Leichtathleten melden sich gerade gut erholt aus langen Pausen zurück, Dreispringer Max Heß schaffte jetzt schon wieder 17,01 Meter, Rebekka Haase die 100 Meter in 11,11 Sekunden. Haase hatte die vergangenen fünf Jahre immer wieder an entzündeten Schleimbeuteln in den Sprunggelenken gelitten, der Wettkampfkalender hatte ihr nie Zeit gespendet, die Probleme zu tilgen - bis jetzt. "Für mich war die Corona-Zeit wirklich ein massives Geschenk", sagte sie in Regensburg, auch für den Kopf: Die Zeit der Pandemie habe sie auch gelehrt, wie schnell der Sport zur Nebensache gerate. "So ein bisschen Demut tut uns Athleten sicher auch mal ganz gut", fand Haase. Jackie Baumann würde das sicher gefallen.

© SZ vom 28.07.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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