Kroatien:Der goldene Nabel

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Omnipräsent: Kroatiens Lenker Luka Modric ist sich für keinen Meter und keinen Kopfball zu schade. (Foto: Franck Fife/AFP)

Unaufdringlich und unnachahmlich: Niemand hat mehr Anteil an Kroatiens Spiel als der brillante Kapitän Luka Modric.

Von Javier Cáceres, Moskau

Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass die Kroaten keine Minute mehr verlieren wollen. Dass sie jede Sekunde des Tages darüber brüten, wie sie am Sonntag im Finale der Fußball-WM die Franzosen besiegen können.

Freitag, der 13. Juli, ist über Moskau schon angebrochen, als ein Jogger auf den von russischen Soldaten und Polizisten bewachten Eingang des Krasnye-Holmy-Hotels zuläuft: Ivica Olic, früher Bundesligaprofi, heute der Assistent von Kroatiens Trainer Zlatko Dalic. Vorher hatte er offenbar keine Zeit gefunden, dem Körper ein wenig Bewegung zu gönnen. Drinnen, im 34. Stock, sitzen nachts noch ein paar Delegationsmitglieder in der imposanten, nicht einmal halb gefüllten Sky Bar, nippen an Drinks, nuckeln an Shisha-Schläuchen, würdigen die Aussicht auf die Lichter der Großstadt mit keinem Blick. Und diejenigen, die nun die Rolle der Heroen übernehmen sollen? Sie dürften ruhen in den Suiten des Fünf-Sterne-Hotels. Allen voran ihr Kapitän, Luka Modric, 32.

Am Freitag waren 88 Jahre vergangen, seit im 13 360 Kilometer entfernten Montevideo, der Hauptstadt Uruguays , das erste WM-Spiel ausgetragen wurde. Und wenn man so will, ist Modric einer der wenigen Spieler dieser WM gewesen, die noch in die Vergangenheit verwiesen. In jene Zeit also, als Fußball noch etwas anderes war als Schach mit Menschenfiguren, als das ständige Hin- und Hergeschiebe von Vierer- oder Fünfer-Ketten, als der überbordende Einfluss von Trainern, als die stete Verknappung von Räumen. Sondern als Fußball die Entfaltung von individuellem Talent bedeutete - die Eroberung von neuen Räumen der Fantasie. Wer weiß, vielleicht rollt nun der Goldene Ball, die Trophäe, die jährlich dem Weltfußballer überreicht wird, auf Modric zu.

Omnipräsent: Kroatiens Lenker Luka Modric ist sich für keinen Meter und keinen Kopfball zu schade. (Foto: Franck Fife/AFP)

"Auch wenn wir nicht den Titel holen sollten, hätte Luka den Ballon d'Or verdient", sagte Slaven Bilic, einst Bundesligaprofi und heute Trainer, bei Nova TV, einem Sender seiner kroatischen Heimat. "Und ich bin in der Frage nicht subjektiv. Ich bin objektiv. Sogar die Engländer sagen das." Und diese Engländer hatte Kroatiens Auswahl schließlich im Halbfinale nach Verlängerung besiegt.

Bilic, bald 50 und früher unter anderem Verteidiger beim Karlsruher SC, hatte als Trainer der kroatischen U21-Nationalmannschaft (2004-2006) gehörigen Anteil daran, den jungen Luka Modric an die Elite heranzuführen; sie sind immer noch eng befreundet. Er bahnte Modric den Weg zur ersten WM-Nominierung 2006, er verhalf ihm in seiner Funktion als Coach des A-Teams bei der EM 2008 zu einem bemerkenswerten Auftritt, und er war stets überzeugt davon, dass Modric das sein könnte, was er nun wohl wirklich ist: "Meiner Meinung nach der beste Mittelfeldspieler der Welt der letzten fünf, sechs Jahre."

Stunden zuvor, in der Nähe des Roten Platzes, saß der Mexikaner Hugo Sánchez, einst Stürmer bei Modrics heutigem Klub Real Madrid und nunmehr bärtiger TV-Experte, im Restaurant Beluga. Er versuchte, sich einen Reim auf die Kaviar-Variationen zu machen, die feilgeboten wurden, und hatte nur eine Gewissheit: dass die Kroaten bei der WM alles zeigten, was man bei dieser WM brauchte, Mannschaftsgeist und Talent in fein austarierten Proportionen. Er hatte die Statistiken studiert und viel über die Arbeitsteilung der Kroaten gelernt. Zum Beispiel, dass sich die elf Tore der Kroaten aus sechs Spielen auf acht Spieler verteilten. Modric war mit Ivan Perisic und Mario Mandzukic der beste Schütze, alle drei hatten bis zum Finale je zwei Tore erzielt. Aber der Grund dafür, dass Modric herausragt, sei statistisch nicht messbar, sagte Hugo Sánchez: "Er ist der Bauchnabel der Mannschaft, ohne Bauchnabelschau zu betreiben."

Dass Kroatiens Team im Finale steht, liegt an einer formidablen Achse: Sie haben einen guten Torwart (Subasic), zwei exzellente Innenverteidiger (Lovren und Vida), ein kongeniales Mittelfeldduo (Rakitic und Modric), glänzende Stürmer wie Perisic und Mandzukic. Aber keiner hat einen so bestimmenden Einfluss auf das Spiel wie Modric, der auch außerhalb des Rasens bestimmend auftritt: Ehe Trainer Zlatko Dalic den Stürmer Nikola Kalinic rauswarf, weil er sich im Gruppenspiel gegen Nigeria aus verletzter Eitelkeit nicht einwechseln lassen wollte, beriet er sich mit Modric und dessen besten Freund, Verteidiger Vedran Korluka. Sie gaben ihr Okay.

Modric, schlug die meisten Pässe (412), mehr als die Hälfte davon in der gegnerischen Hälfte (288, ebenfalls Bestwert); er brachte 34 Flanken, mehr als jeder andere, in den gegnerischen Strafraum. Doch er war dabei so unaufdringlich wie ein subtiles Genie. "Er macht keine unmöglichen Dinge", schrieb Jorge Valdano, der argentinische Weltmeister von 1986 und großer Deuter dieses Sports, dieser Tage in der englischen Zeitung Guardian. "Wenn er einen Pass spielt, denkt man: Das ist genau das, was ich auch getan hätte. Wir lieben es, solche Schlüsse zu ziehen, aber wir sollten nicht glauben, was wir sagen. Tatsache ist: Was Modric macht, macht nur Modric."

Die Kardinalfrage aber ist, ob die Kräfte reichen werden. Für Modric, für Kroatien. In allen drei K.-o.-Spielen sind sie in die Verlängerung gezwungen worden: von Dänemark, von Russland, von England. Modrics Kilometerzähler steht nach sechs Spielen auf 63, eine irrwitzige Zahl. Bislang hat es in der WM-Geschichte drei Teams gegeben, die drei Mal in einem Turnier die Verlängerungen gehen mussten: Belgien 1986, England 1990 und Argentinien 2014. Keine Mannschaft aus diesem Kreis wurde danach Weltmeister, nur Argentinien schaffte es ins Finale. Aber Modric scheint "mit einer Muskelintelligenz geboren worden zu sein, die auf jede Aktivität angewandt wird, die durch einen Ball ausgedrückt wird", sagt Valdano, und das könnte bedeuten, dass man Geld zum Fenster herauswerfen würde, wenn man gegen Modric wetten würde.

© SZ vom 14.07.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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