Julian Draxler:Draufgänger mit Zauberfüßen

Lesezeit: 4 min

Zweikämpfe, Dribblings, eins gegen eins: Der Wolfsburger zeigt endlich, warum ihn der Bundestrainer für den Spieler mit den größten Begabungen hält.

Von Philipp Selldorf, Lille

Der slowakische Verteidiger Jan Durica ist ein großer, starker Mann, der sehr böse gucken und sehr hart schießen kann. Es wäre keine Schande, hinter der Eckfahne vor ihm in Deckung zu gehen, trotzdem ist Julian Draxler, 22, dem Freistoßschützen Durica ohne Zaudern entgegengetreten. Er hatte keinen Jérôme Boateng bei sich, trug keine Rüstung und hielt kein Schutzschild vor sein immer noch jugendliches Antlitz, Draxler riskierte mehr oder weniger mutwillig seine Unversehrtheit. Glücklicherweise verfehlte dann der harte Schuss des großen, starken Slowaken sowohl Draxler als auch das Tor von Manuel Neuer. Bloß die Werbebande hatte hinterher eine Beule.

Schwer zu sagen, ob Draxler diesen gefährlichen Einsatz auch in einem Länderspiel gewagt hätte, in dem er weniger eindrucksvoll ins Geschehen einbezogen war als an diesem Sonntag in Lille, wo ihn die fachkundige Jury zum besten Spieler der Partie kürte. Man sollte auch nicht unbefugt darüber spekulieren, ob er sich auch in einem Spiel mit dem VfL Wolfsburg gegen die TSG Hoffenheim so aufopfernd eingebracht hätte - Klaus Allofs und Dieter Hecking kennen wohl die Antwort, und sie gefällt ihnen nicht. Fest steht, dass Draxler generell an diesem Abend bereit war, eine Menge zu riskieren. Deshalb war er der Mann, über den alle gesprochen haben.

Viele Menschen in Deutschland wundern sich jetzt, dass Julian Draxler beim 3:0-Sieg in Lille so ein aufregendes Repertoire geboten hat, das ihn mit einer Serie von Szenen in die Nähe von Zinédine Zidane und der ganz großen Fußballwelt brachte. Dort möchte Draxler hin, aber bisher ist er erst nach Wolfsburg in Niedersachsen gekommen, weshalb sich jetzt so viele Leute über ihn gewundert haben.

Ein deutscher Fachmann hingegen hat es längst gewusst. Schon vor zwei Jahren hat er ausgesagt, dass Draxler unter den 23 Weltmeistern die größten Begabungen mitbrächte, dass er dank seiner offensiven Fähigkeiten auch in dieser an Talenten so reichen Mannschaft noch ein Stück herausrage. Dieser Fachmann ist der Bundestrainer. Vor dem Treffen mit der Slowakei entschied Joachim Löw, von Draxlers speziellen Eigenschaften Gebrauch zu machen und ihn dafür streng in die Pflicht zu nehmen. Am Sonntag nach dem Frühstück teilte Löw dem Angreifer nicht nur mit, dass er spielen werde, sondern auch, wie er zu spielen habe. Löw verlangte Zweikämpfe, Dribblings, Draufgängertum, das sogenannte Eins gegen eins. "Es war eine klare Ansage vom Bundestrainer, dass er das sehen möchte. Und wenn man spielen möchte, dann sollte man umsetzen, was der Trainer sehen will", erzählte Draxler später.

So ähnlich hat damals alles angefangen für den Profifußballer Draxler, vor fünfeinhalb Jahren im Pokalspiel mit Schalke 04 gegen den 1. FC Nürnberg. Felix Magath, sein Trainer, hatte ihn vor der Einwechslung zur Seite genommen und ihm gesagt: "Trau dich was." Und dann machte Draxler in der Verlängerung einen Haken um den Gegner und schoss den 3:2-Siegtreffer.

Während der ersten beiden Turnierspiele hatte Draxler allenfalls partiell überzeugt, im Grunde waren seine Leistungen, nachdem man ihn nun so ganz anders erlebt hat, enttäuschend. Wie Löw darüber dachte, das wusste Draxler nicht so genau, aber die Reservistenrolle, die ihm gegen Nordirland zufiel, gab ihm recht eindeutige Hinweise. Umso überraschter war er, als er nun die Nominierung erhielt: "Der Bundestrainer lässt sich generell nicht gerne in die Karten schauen. Heute Morgen hat er es mir mitgeteilt, und von da an war mir klar: Heute zählt's."

Alleingänge erfordern Mut, im Kreis der Nationalmannschaft womöglich gleich doppelt so viel Mut: Weil es genügend hochklassige Ersatzleute gibt, und weil die deutsche Mannschaft ein Spiel betreibt, das Ballverluste nicht vorsieht. "Unser Spiel ist natürlich sehr darauf bedacht, Ballsicherheit zu haben", sagte Draxler, "wenn man dann in vier Eins-gegen-eins-Situationen drei Bälle verliert, dann braucht man das Selbstvertrauen und den starken Rücken, um weiterzumachen." Langes Ballführen und dezidierte Sololäufe sind im modernen "One-Touch-Fußball" ein wenig in Verruf geraten, nicht nur bei den Fachdozenten, auch bei den Fach-Zuschauern im Stadion, die sofort "Spiel ab!" brüllen, wenn einer mal nicht gleich den Ball weitergibt.

Darüber hinaus erfordern Alleingänge auch Mitspieler, die dem Solisten Platz verschaffen und aufräumen, wenn dieser auf der Strecke bleibt. Insofern findet sich eine Erklärung für Draxlers starke Leistung auch in der starken (Fleiß-)Leistung Thomas Müllers, der schon wieder kein einziges Tor geschossen hatte und trotzdem nicht weniger gut gelaunt aus der Kabine kam als der Held des Abends. Müller ist so ehrlich zuzugeben, dass er selbst auch gern mal wieder treffen würde ("Ich arbeite daran, dass es auch bei mir selbst wieder scheppert"), aber man darf ihm ruhig glauben, wenn er sagt, dass er mit sich und dem großen Ganzen zufriedener ist, als viele meinen. "Das wird nicht so wirklich geglaubt, dass ich nicht so von meinen Toren abhängig bin", hat er festgestellt, "aber es geht mehr darum, dass die Mannschaft ihre Top-Performance auf den Platz bringt. Lösen wir uns einfach mal von den Toren und beobachten einfach mal die Leistung der Mannschaft. Das hat Spaß gemacht heute."

Die Szenen, in denen Draxler dank seines schnellen Antritts und seiner "zwei Zauberfüße" (Mario Gomez) für leuchtende Momente sorgte - und für die Tore zum 2:0 und 3:0 -, standen später im Mittelpunkt der Betrachtungen. Doch über die Dauer besehen, waren es vor allem die unentwegten Positionswechsel in der Offensive, die das deutsche Spiel bewegten. Auch Draxler kam ja aus allen Richtungen auf die slowakische Deckung zu, von rechts, von links, durch die Mitte. "Unsere Flexibilität ist genial", rief Gomez aus. Geniales Bonmot.

© SZ vom 28.06.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: