Italiens Nationalelf:Verteidigen mit Pater Pio

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Italiens neuer Trainer Cesare Prandelli reformiert die Squadra Azzurra, jetzt fehlen nur noch gute Resultate. Die Mannschaft ist jung und unerfahren - und die Zeit des Catenaccio ist vorbei.

Birgit Schönau

Cesare Prandelli traut nur einem über 30: Andrea Pirlo vom AC Mailand. Auf den 31-Jährigen Mittelfeldregisseur vom AC Mailand will der neue Nationaltrainer nicht verzichten, wenn die Squadra Azzurra am Freitag in Tallinn gegen Estland ihr erstes Qualifikationsspiel zur EM 2012 austrägt. "Wir müssen sofort Punkte machen", sagt Prandelli. Es werde deshalb keine taktischen Experimente geben, "aber mein Ziel ist es, das Resultat durch Leistung zu erreichen. Die Mannschaft kann vielleicht nicht gleich Spektakel bieten aber doch Ausgewogenheit und Ordnung."

Der neue Nationaltrainer Cesare Prandelli muss die Squadra Azzurra reanimieren. (Foto: AFP)

Was ja auch fehlte beim peinlichen Einakter der italienischen Unglücksraben-Auswahl während der WM, als sich für den Titelverteidiger bereits nach der Vorrunde der Vorhang senkte - Italien ging als Gruppenletzter, ohne ein Spiel gewonnen zu haben. Es ging dann auch, zum zweiten und letzten Mal, Trainer Marcello Lippi, der durch Prandelli, 53, ersetzt wurde.

Ein Prediger der Offensive

Der hatte zuvor beim AC Florenz seine Talente frischen Offensivfußball spielen lassen und seine relativ kostengünstige Elf so mehrmals für die Champions League qualifiziert. Vieles deutet darauf hin, dass Prandelli das Florentiner Rezept aufs Nationalteam anwenden wird. Der ehemalige Juventus-Spieler, dem die Defensivpredigten seines einstigen Übungsleiters Giovanni Trapattoni noch heute sauer aufstoßen, hat die Squadra Azzurra bereits revolutioniert, jetzt braucht es nur noch Ergebnisse.

Von den Weltmeistern 2006 sind außer Pirlo nur der Römer Daniele De Rossi und Torwart Gianluigi Buffon übrig geblieben. Letzterer ist als Kapitän berufen, aber nach einer Bandscheibenvorfall-Operation in Rekonvaleszenz. Buffon wird in Tallinn und am Dienstag beim zweiten Gruppenspiel gegen die Färöer-Inseln in Florenz durch einen Kollegen aus einem Trio illustrer Unbekannter ersetzt: Antonio Mirante vom FC Parma, Salvatore Sirigu von US Palermo oder Emiliano Viviano vom FC Bologna. Mirante ist mit 27 Jahren der Älteste. "Ich entscheide nach Trainingsleistung, wer im Tor steht", sagt Prandelli.

Beim Test gegen die Elfenbeinküste hat der Neue im August bereits seine erste Niederlage kassiert (0:1). Aber Prandelli weiß, dass er Zeit braucht, und er weiß auch, dass ihm Zeit gewährt wird. Weil es zu ihm keine Alternative gibt. Durch Prandelli wurde nicht nur die Mannschaft radikal verjüngt, auch das Klima ist anders geworden. Lange nicht wurde im Trainingslager der Squadra so viel gelacht. Dabei verlangt der Commissario Tecnico seinen Spielern ab, sich auf einen "Ethikcode" zu verpflichten, der ihre Vorbildfunktion festklopft.

Die neue, junge, unerfahrene italienische Mannschaft. Nur ein Spieler ist über 30 Jahre alt: Andrea Pirlo (der fünfte von links). (Foto: AFP)

Anders als Vorgänger Lippi, der sich schnell über jede Kritik erhaben fühlte und stoisch die Überlegenheit der "italienischen Schule" predigte, legt Prandelli den Finger in offene Wunden. "Als Fabio Capello sagte, unser calcio sei von radikalen Fans dominiert, hatte er nicht ganz Unrecht", analysiert der Nationaltrainer. "Es ist doch peinlich für uns, dass wir seit 40 Jahren die gleichen Dinge kommentieren müssen. In manchen Städten herrscht längst ein Klima psychologischer Gewalt, das auch die Spieler konditioniert." Zum Beispiel, Prandelli sprach es lieber nicht aus, in Rom, Neapel, Palermo. "Wir Erwachsenen sind sowieso kompromittiert", glaubt Prandelli, "nur die neue Generation kann unseren Fußball retten". Zum ersten Heimspiel in Florenz sind 2000 Schulkinder eingeladen. Die Italien natürlich siegen sehen sollen.

In 2010 kein Spiel gewonnen

In diesem Jahr, dem 100. ihres Bestehens, hat die Squadra noch kein Spiel gewonnen. "Wir sind ein bisschen besorgt", untertreibt Giorgio Chiellini von Juventus, mit seinen 26 Jahren neuer Chef einer Abwehr, die zuletzt in Trümmern lag. "Die Squadra ist eine offene Baustelle", erklärt Chiellini, und bis zum Wiederaufbau dürften zwei, drei Jahre verstreichen. Chiellini, selbst alles andere als eine Abwehrsäule, führt eine Defensive ohne Erfahrung an. Seine vier Kollegen kommen insgesamt auf acht Einsätze im Nationalteam - addio catenaccio. "Da hilft wohl nur Pater Pio", seufzte der Corriere della Sera - der Beistand eines bärbeißigen Volksheiligen aus Apulien.

Tatsächlich könnte der Kapuzinermönch so manches Heilwunder erwirken, hat doch Prandelli mit vielen Verletzungsausfällen zu kämpfen. So wird Mario Balotelli (Manchester City) gegen Estland ebenso fehlen wie Claudio Marchisio (Juventus) und Prandellis deutsch-italienischer Augapfel Riccardo Montolivo vom AC Florenz. Antonio Cassano von Sampdoria Genua hingegen klagt über Rückenschmerzen, wird aber wohl die Stürmer Fabio Quagliarella (Juventus) und Giampaolo Pazzini (Sampdoria) unterstützen. Das ewige Enfant terrible Cassano - von Lippi ignoriert - erschien mit einem Tag Verspätung im Trainingslager. "Damit der Schlingel mehr Aufmerksamkeit bekommt", spottete Prandelli. Cassano umarmte ihn lachend. Die neuen Azzurri zeigen statt Galgenhumor lieber gute Laune.

© SZ vom 02.09.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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