Interview:"Frankreichs größter Gegner ist Frankreich"

Lesezeit: 6 min

Alain Giresse über den Gastgeber.

Interview von Peter M. Birrer & Thomas Schifferle, Montpellier

Als die Franzosen vor 32 Jahren in Paris mit einem 2:0 gegen Spanien Europameister wurden, gehörte Alain Giresse zur Mannschaft, die von Michel Platini angeführt wurde. Heute ist der 63-Jährige Nationaltrainer von Mali, während der EM Experte bei Radio France - und Beobachter der aktuellen Nationalmannschaft, die bereits für das Achtelfinale qualifiziert ist und heute (21 Uhr) in Lille die Vorrunde gegen die Schweiz abschließt und bereits bei einem Remis Gruppensieger wäre.

SZ: Monsieur Giresse, was war für Sie das herausragende Ereignis der ersten Turnierwoche?

Giresse: Gab es eines? Nein. Viele Spiele glichen sich, ich sah soliden Fussball, aber keine Mannschaft, von der ich sagen würde: Sie ist dominanter als alle anderen.

Sind Sie enttäuscht vom Niveau?

Nein, nein! Es ist einfach eine Feststellung: Selbst die Außenseiter lassen sich nicht mehr einfach so abhängen. Nehmen Sie Albanien, nehmen Sie Nordirland, die sind sehr zäh und bereiten Schwierigkeiten... Aber am Ende werden sich die Großen durchsetzen, daran gibt es keine Zweifel.

Haben die Franzosen Spaß an der EM in ihrem Land?

Ja. Wenn ich sehe, mit welcher Begeisterung sie die zwei Spiele unserer Mannschaft verfolgt haben, ist das schon außerordentlich. Die Menschen haben Spaß, sie reagieren erst recht begeistert, wenn die Resultate von Frankreich positiv sind. Sie haben Lust, die Spieler anzutreiben. Ja, sie lieben diesen Anlass und wollen ihn zu einem schönen Ereignis machen.

Frankreich hat viele Probleme und Sorgen. Kann die EM helfen, etwas abzulenken?

Sie hilft, auf andere Gedanken zu kommen und schöne Momente zu erleben statt ständig nur traurige. Aber natürlich verschwinden mit der EM die Probleme nicht. Und wir müssen den Fußball auch nicht wichtiger machen, als er ist. Er wird unsere Gesellschaft nicht nachhaltig verändern oder besser machen. Der Terror ist latent ein Thema, dann gibt es die Streiks. Es gibt vieles, das nicht ist, wie es sein sollte in unserem Land.

Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie Bilder von Ausschreitungen sehen wie beim Turnierstart in Marseille?

Das ist unfassbar, dramatisch, eine Schande! Ein Fußballturnier wird von englischen und russischen Hooligans als Bühne missbraucht. Ich frage mich: Wie ist es möglich? Unter dem Jahr gibt es in der Premier League kaum Ausschreitungen, dafür hier. Nur müssen wir uns nichts vormachen: Es hat weder mit Marseille noch mit Frankreich zu tun, das wäre wohl auch in Belgien oder Spanien passiert mit den Russen und den Engländern. Aber was wollen diese Typen? Zeigen, dass sie die Stärksten sind? Oder was?

Alain Giresse während des EM-Finales 1984 gegen Spanien in Paris: Es war der erste Euro-Triumph der Franzosen. (Foto: David Cannon/Getty Images)

Leidet das Turnier darunter?

Das ist offensichtlich. Am Donnerstag mussten die Schulen in Lens vorsichtshalber geschlossen werden, als die Engländer gegen Wales spielten. Die Einwohner an den Spielorten müssen sich dem Verhalten jener anpassen, die in ihre Stadt kommen.

Sehen Sie einen Lösungsansatz für diese Probleme?

Das ist sehr schwierig. Wer ein Ticket will, muss sich registrieren, das ist ein Anfang. Aber es verhindert nicht, dass es zu Auseinandersetzungen kommt...

...weil man sich auch ohne Ticket in Marseille prügeln und Menschen terrorisieren kann.

Leider ist das so. Aber was ist die Konsequenz daraus? Die Grenzen schließen und niemanden mehr reinlassen? Es ist schrecklich.

Das Turnier wird erstmals von 24 Teams bestritten. Sind das nicht zu viele?

Eigentlich ist die EM das Treffen der Elite. Aber ist es das mit 24 noch? Nein. Mit so vielen Teilnehmern ist die Grenze erreicht. Früher musste man sich einen Platz in der Qualifikation verdienen, heute ist fast die Hälfte aller Uefa-Verbände vertreten.

Zur Elite zählt zweifellos Frankreich. Wie hat Ihnen die Mannschaft bis jetzt gefallen?

Mir gefällt die mentale Verfassung, die Bereitschaft, sich aufzulehnen und an den Sieg zu glauben, auch wenn es lange unentschieden steht. Aber man kann nicht behaupten, dass sie spielerisch überzeugt hätte, das war doch eher ärmlich.

Das Frankreich von heute ist kein Vergleich mehr mit dem Frankreich der WM 2010, als die Spieler streiken wollten und Bixente Lizarazu von einem "Irrenhaus" sprach.

Oh nein, das war beschämend, und man darf das auch nicht vergleichen. Das Verhalten der Spieler heute und jenes von damals, das ist komplett etwas anderes. Wir müssen mit diesen Vorfällen leben, wir können sie leider nicht auslöschen. Aber es gibt bis heute keine rationale Erklärung dafür, was in den Köpfen der Leute vorging.

Ist es ein Vor- oder Nachteil für ein Nationalteam, ein Turnier im eigenen Land zu bestreiten?

Ich sehe es als Vorteil. Es gibt andere Beispiele wie Brasilien, das 2014 dem Druck nicht standhalten konnte. Aber man muss fähig sein, die breite Unterstützung und die Emotionen auszunützen, ich sehe es als positiven Druck, wenn man spürt, wie das ganze Land hohe Erwartungen hat.

Wie fällt Ihr Vergleich des heutigen Teams mit dem Europameisterteam 1984 oder den Weltmeistern von 1998 aus?

Die aktuelle Auswahl ist weniger reif und viel jünger. Den jungen Spielern mangelt es noch an Erfahrung, und sie sind sicher noch nicht am Zenit. Die Qualität ist vorhanden, klar, aber es ist alles noch etwas fragil. Und sowohl die Ausgabe 1984 und als auch die von 1998 hatte je einen großen Spieler.

Michel Platini und Zinédine Zidane.

Voilà.

Und Alain Giresse?

Der war nicht in der gleichen Kategorie (lacht).

Aber Sie sind bei der EM, Michel Platini ist es nicht...

...leider. Was die Fifa mit ihm machte, ist ungerecht, weil ich nicht glaube, dass alles, was ihm vorgeworfen wird, auch passiert ist. Er hat nicht betrogen, davon bin ich überzeugt. Aber viele Leute haben Freude, dass es soweit gekommen ist. Sie wünschen Michel alles Schlechte.

Haben Sie mit ihm Kontakt?

Natürlich. Michel ist ein Freund von mir, und ich unterstütze ihn. Ihm tut es weh, dass er nicht hier sein kann, und mir tut das leid.

Was machte Platini als Spieler aus und was Zidane?

Platini war ein echter Leader - als Spieler auf dem Platz, und er hatte auch neben dem Platz alles fest im Griff. Zidane war vor allem als Spieler ein Leader. Die Wortführer in der Mannschaft von 1998 waren vielmehr Laurent Blanc und Didier Deschamps.

Wer müsste der Leader von heute sein?

Ich sehe keinen, der die Voraussetzungen erfüllt, eine komplette Persönlichkeit zu sein. Es gibt keinen mehr wie Platini, der die Mannschaft als Spieler lenkt und auch sonst den Ton angibt. Heute ist es Patrice Evra als Erfahrener, dessen Wort Gewicht hat in der Kabine. Aber auf dem Feld hat er nicht den gleichen Einfluss. Die autoritäre Figur gibt es nicht.

Wird es in Frankreich je wieder einen Platini oder Zidane geben?

Wieso nicht? Es gibt Länder, die nie Spieler dieser Klasse hatten. Bei uns waren es immerhin zwei. Oder wenn wir die Argentinier nehmen: Sie hatten Maradona, sie haben jetzt Messi. Aber wen hatten sie dazwischen? Solche Fußballer sind eine absolute Rarität.

Wer sind denn heute die Schlüsselspieler?

Da ist vor allem Dimitri Payet zu nennen. Er hat seine überragende Technik mit seinen Toren gegen Rumänien und Albanien demonstriert. Aber er ist derzeit der einzige und noch etwas allein, nur er scheint den Unterschied ausmachen zu können.

Was denken Sie von Trainer Didier Deschamps?

Er ist als Trainer wie als Spieler schon: einer mit der nötigen Härte und einer, der sein Team unter Kontrolle hat. Er geht als Chef voran und ist unumstritten.

Macht er etwas besser als Raymond Domenech oder Laurent Blanc, zwei seiner Vorgänger?

Domenech führte Frankreich 2006 ins WM-Finale, das war schon einmal nicht schlecht. Einverstanden? Domenech war neben Aimé Jacquet der einzige Trainer überhaupt, der mit Frankreich einmal in einem WM-Endspiel gestanden hat. Das wird sehr gern vergessen.

Alain Giresse ist derzeit Trainer von Malis Nationalmannschaft. (Foto: Alexander Joe/AFP)

Aber Domenech hatte Zidane.

Den hatte Jacquet auch. Und nach Domenech kam Laurent Blanc. Er musste alles neu aufbauen nach der desaströsen WM 2010, und Deschamps hat seine Arbeit fortgeführt. Und die Leute schätzen es sehr, wie die Gruppe zusammengesetzt ist, wie sie auch funktioniert.

Hat diese Gruppe auch genügend Substanz für den Titel?

Sie hat Substanz, tut sich aber noch schwer, das zu zeigen. Ohne Steigerung wird sie das Finale nicht erreichen. Man wird nicht jedes Spiel in letzter Sekunde entscheiden können.

Der Turniersieg ist aber das erklärte Ziel. Wen sehen Sie als größten Konkurrenten?

Frankreich ist im Moment Frankreichs größter Gegner. Wenn es gelingt, die Verkrampfung zu lösen und das Spiel zu entfalten, wie es möglich sein müsste, dann halte ich einiges für möglich.

Wem schauen Sie selber am liebsten zu? Frankreich?

Mannschaften, die Offensivfussball bieten. Die Philosophie von Barcelona sagt mir viel mehr zu als die von Atlético Madrid. Ich liebe den schönen Fußball, den Ballbesitz, die Kreativität. Es gibt viele Teams, bei denen man die Organisation hervorhebt und von ihrer Defensive schwärmt. Aber es ist relativ einfach, so zu spielen, das kann jeder. Die wahre Kunst des Fussball besteht darin, Probleme mit spielerischen Mitteln zu lösen, Ideen zu entwickeln, wie ich ein Spiel gewinnen kann.

Am Sonntag heißt der Gegner Schweiz. Was erwarten Sie da von Ihrer Mannschaft?

Dass sie den ersten Platz in der Gruppe verteidigt. Dafür reicht zwar ein Unentschieden, aber ich wünsche mir schon ein souveränes, befreites Auftreten und nicht eine zögerliche, unentschlossene Mannschaft. Ein Sieg ist freilich keine Selbstverständlichkeit, weil ich die Schweiz stärker einstufe als Albanien und Rumänien.

Wer wird Europameister?

Keine Ahnung.

Wagen Sie bitte wenigstens eine Prognose.

Wenn vor einem Turnier oder einem Match schon klar wäre, wer gewinnt, könnten wir uns alle Spiele ersparen. Wollen wir das? Nein! Ich orientiere mich lieber an der Realität, an nichts anderem.

© SZ vom 19.06.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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