Hertha BSC:Meister der Ruhe

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Kaum einer der Bundesliga-Kapitäne ist unaufgeregter als Dedryck Boyata. Mit einer natürlichen Autorität soll er durch die Zeiten des Umbruchs in Berlin lenken.

Von Javier Cáceres, Berlin

Es gibt kaum etwas Wirkmächtigeres als die Stille, kaum etwas Deutbareres als das ungesagte Wort. Und wenn es bei Hertha BSC, am Sonntagabend in München der nächste Gegner des FC Bayern, einen Meister der Ruhe gibt, dann den Mann, der erst vor wenigen Tagen die Wahl zum Spielführer annahm, obwohl er erst vor wenigen Wochen nicht einmal Abwehrchef genannt werden wollte, weil er "mit solchen Schlagwörtern nichts anfangen" könne: Dedryck Boyata, 29.

Legt man zugrunde, dass er seit seiner Ankunft in Berlin im Sommer 2018 nicht viel mehr Worte über die Lippen bekam als das berühmte Brunnenmännchen aus seiner Heimat Brüssel, könnte man die Nominierung Boyatas zumindest verwunderlich nennen. Aber: "Es überrascht mich überhaupt nicht, dass Dedryck bei Hertha zum Kapitän gewählt worden ist", sagt Belgiens Nationaltrainer Roberto Martinez am Telefon: "Dedryck ist kein Anführer, den man vernimmt. Er ist nicht laut. Er ist keiner, der wild gestikuliert. Er ist intelligent. Und wenn er etwas zu sagen hat, dann hören die Leute in einer Kabine hin. Denn er hat eine natürliche Autorität."

Es gibt Fußball-Kulturen, in denen die Kapitänsbürde dem dienstältesten Spieler angetragen wird. In der Bundesliga hingegen wird der Kapitän meist vom Trainer bestimmt - laut einer Übersicht der Deutschen Presse-Agentur (dpa) bei zwölf der 18 Mannschaften. Zu den Vereinen, in denen der Kapitän basisdemokratisch gewählt wird, gehört Hertha BSC. Dort zog sich die Kür aber hin, wegen zahlreicher Abwesenheiten in der Vorbereitung fand sie erst nach dem ersten Spieltag statt; beim 4:1-Sieg in Bremen führte noch Niklas Stark das Team aufs Feld. Doch dann siegte beim Kabinenreferendum der stets in sich gekehrt wirkende Boyata. Stiller als er ist im Kreis der Bundesliga-Kapitäne nur der Chilene Charles Aránguiz bei Bayer Leverkusen, der ebenfalls kaum Deutsch spricht. Auch er bezieht seine Autorität aus seiner Leistung.

Seine Leistung im ersten Spiel als Kapitän war nicht repräsentativ – hier foult Boyata (links) den Frankfurter Andre Silva – Elfmeter, Endstand 1:3. (Foto: Michael Sohn/dpa)

Er werde nicht viel anders machen als bisher, sagte der Belgier nach seiner Wahl. Und tat es doch. Denn dass er ausgerechnet bei seinem Debüt als Kapitän, beim 1:3 gegen Eintracht Frankfurt am zweiten Spieltag, den Elfmeter zum 0:1 verursachte und beim 0:2 eine schlechte Figur machte, war nicht repräsentativ. Im Gegenteil. Die Wahl dürfte zuvor auch deshalb auf ihn gefallen sein, weil er in seiner Startsaison bei Hertha zur verlässlichen Größe geworden war, nicht nur wegen seiner vier Tore. Und wenn Konstanz ein Wert an sich ist, dann gilt das jetzt umso mehr, da Hertha viele Umbrüche aushalten muss.

Der augenscheinlichste: Als Trainer Bruno Labbadia im April antrat, war er nach Pal Dardai, Ante Covic, Jürgen Klinsmann und Alexander Nouri bereits der fünfte Trainer binnen eines Jahres. Manager Michael Preetz trat die Rolle als Bindeglied zwischen Mannschaft und Geschäftsführung an den einstigen Nationalspieler Arne Friedrich ab. Im Sommer dann wurde die Achse des Teams ausgetauscht. Rune Jarstein ist nun Ersatztorwart, der defensive Mittelfeldspieler Per Skjelbred kehrte nach Norwegen zurück, Salomon Kalou ist in Rio de Janeiro und hat dort immerhin besseres Wetter als der Mann, der nach Gelsenkirchen zog und in Berlin die Kapitänsbinde hinterließ: Vedad Ibisevic. Dass Boyatas Bizeps umfassend genug ist, den Stoffring zu tragen, daran hat Trainer Labbadia keinen Zweifel. "Es ist eine gute Wahl", sagte der Coach und adelte ihn zum Schlüsselspieler: "Er ist ein sehr wichtiger Baustein in unserer Mannschaft, weil er Dinge verkörpert, die wir einfach brauchen."

Angeeignet hat er sie sich, als er nur auf den feinkörnigsten Radarbildern des Weltfußballs zu sehen war. In Boyatas Lebenslauf stehen zwar unter anderem vier schottische Meistertitel und drei Pokale mit Celtic Glasgow. Aber Martinez holte Boyata zu einem Zeitpunkt in die belgische Nationalelf zurück, da er bei Celtic kaum spielte. Weil er wusste, dass Boyata einer dieser Spieler ist, die sehr jung das eigene Land verlassen haben. Boyata war mit 16 in die Akademie von Manchester City gewechselt, das habe seine Persönlichkeit geprägt, sagt Martinez, der als spanischer Fußball-Emigrant (Swansea, Wigan Athletic, Everton) großen Respekt vor solchen Biografien hat. Interessiert aber habe ihn letztlich Boyatas sportliches Profil, seine nachgewiesene Anpassungsfähigkeit.

"Er wurde von City oft ausgeliehen, und er ist zwar Innenverteidiger, hat aber auch als Außenverteidiger gespielt, links wie rechts. So etwas ist für jede Mannschaft und jeden Trainer von großem Wert." Bei der WM 2018 in Russland stand Boyata in Belgiens Startelf und glänzte mit einem umfassenden Repertoire. "Er antizipiert gut, ist bei hohen Bällen sehr mächtig, hat eine gute Zweikampfpräsenz und bei der Spielauslösung viel dazugewonnen", sagt Martinez. Und: Boyata sei unaufgeregt, solide, arbeitsam.

Ausrutscher wie zuletzt gegen Frankfurt waren bei Boyata bisher eine Ausnahme. "Wir schauen uns alle Spiele der Hertha an, gerne mit einer Kameraeinstellung, die uns die Vogelperspektive zeigt. Was mir aufgefallen ist: Wie gut Dedryck mit Jordan Torunarigha in der Innenverteidigung harmoniert", sagt Martinez, "der eine schützt den anderen." Das heißt vor allem, dass Boyata den jungen Torunarigha, 23, protegiert, sein Wachstum bewacht und fördert. Ohne viele Worte.

© SZ vom 04.10.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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