Hertha BSC:"Gar kein Beinbruch"

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Berliner Wunschvorstellung: Marko Grujic lässt zwei Münchner neben sich liegen. Für Torgefahr sorgten aber auch solche Szenen nicht. (Foto: Stuart Franklin/Getty Images)

Trotz des 0:4 gegen den FC Bayern redet Hertha-Trainer Klinsmann seine Mannschaft stark - und attestiert ihr, "60 Minuten top dagegengehalten" zu haben.

Von Javier Cáceres, Berlin

Am Tag nach dem 0:4 gegen den FC Bayern erhöhte Jürgen Klinsmann, der Trainer von Hertha BSC, den Druck auf Manager Michael Preetz. Ein bisschen jedenfalls. Denn dass Preetz im Sommer einen Hertha-Kader zusammengestellt hatte, der eigentlich "gut genug" sei, um den Klassenverbleib zu sichern, das gestand Klinsmann gerne ein. Andererseits: "Wenn wir da noch etwas finden im offensiven Bereich, das würde uns natürlich enorm helfen", sagte er, nachdem er einen Mangel an "Durchschlagskraft" diagnostiziert hatte. Seit seinem Amtsantritt Ende November hat Klinsmann Kapitän Vedad Ibisevic (drei Tore aus zwölf Bundesligaspielen) und dessen früheren Sturmpartner Salomon Kalou (1/5) mehr oder weniger ausgemustert; der eine ist ihm zu sehr Strafraumstürmer, der andere wohl zu alt. Daher durfte Davie Selke seine Position als Hertha-Stürmer mit den meisten Startelfeinsätzen ausbauen. Obwohl er in 18 Saisonspielen auf nur ein Tor gekommen ist.

Auch gegen den FC Bayern hatte Selke vor der Pause eine formidable Chance. Immerhin. Nach einer Flanke stand er so allein im Strafraum der Münchner, dass man fürchten musste, er käme sich einsamer vor als Adam am Muttertag. Trotz der damit einhergehenden Zeit, den Ball zu platzieren, setzte Selke den Kopfball weit übers Tor. Was unter anderem dazu führte, dass der erste und einzige Schuss direkt aufs Münchner Tor später kurz vor Abpfiff zu bestaunen war, als der eingewechselte Pascal Köpke an Torwart Manuel Neuer scheiterte. Ansonsten aber drängt sich die Frage auf, was Hertha mit Angreifern wollen würde? Stürmer muss man ja auch ins Spiel bringen, beziehungsweise: ins Spiel bringen wollen.

Hertha pflegt unter Klinsmann einen so defensiven Stil, den die Profis so verinnerlicht haben, dass sie im Zweifel einen Schritt zurück tun statt einen nach vorne. Der eigentliche Plan gegen die Bayern sei, so Klinsmann, schon gewesen, die Abwehrkette "fünf oder zehn Meter hinter der Mittellinie" zu positionieren, um dann "im Mittelfeld den Fight zu geben". In der Realität aber ließen sich die Hertha-Spieler von den lange einfallslosen Bayern-Profis "hinten reindrücken" (Klinsmann), mit weitreichenden Folgen für die eigenen Angriffsbemühungen. Die offensiver ausgerichteten Mittelfeldspieler Marco Grujic und Vladimir Darida, denen Zugang Santiago Ascacíbar als Sechser den Rücken freihalten sollte, hatten null Torschüsse - so viel wie alle Hertha-Spieler - außer Selke (4) und Köpke (2). Das galt auch für die Außenbahnspieler Dodi Lukebakio und Javairo Dilrosun, weil ihnen, wie Klinsmann sagte, "in der Gegenbewegung" die Energie fehlte, nachdem sie sich "gegen offensiv ausgerichtete Außenverteidiger" der Bayern aufgerieben hatten. Beide waren im Grunde auch nicht da, wenn von hinten lange Bälle auf Selke geschlagen wurden und diese entweder abprallten oder von Selke abgelegt werden sollten. Anders formuliert: "Der Dodi" und "der Jav" sehen sich ihrer Stärken beraubt, weil sie Pflichten erfüllen, die ihnen weder liegen noch Erfolgserlebnisse bereiten. Die Bayern kamen gegen Hertha auf 28 Flanken - vier Mal mehr als Hertha und zwölf Flanken mehr als im Saisonschnitt. Die Bayern-Führung war somit daher vor allem dies: eine Frage der Zeit.

Klinsmann ändert das System - und aus einem 0:2 wird ein 0:4

Nach dem 0:1-Rückstand (Thomas Müller/60.) stellte Klinsmann um. Er tauschte Darida gegen Marius Wolf (68.), weil dieser offensiver denkt und laut Klinsmann "richtig gut drauf ist". Aus dem 4-1-4-1-System wurde ein 4-4-2 - und damit aus dem Versuch, das Spiel defensiv zu kontrollieren, ein Vabanquespiel. Ihm sei klar gewesen, dass es für die zentralen Mittelfeldspieler "natürlich schwieriger wird, die Löcher vor der Abwehr zu stopfen", sagte Klinsmann - zumal kaum eine Mannschaft besser als die Bayern imstande sei, "solche Räume zu lesen und vorauszudenken". Es habe auch eine "Diskussion" auf der Bank gegeben, ob das die richtige Strategie sei. "Ich bin da mehr der Trainer, der sagt: Ich probier's jetzt, wenn ich noch eine drauf krieg', dann schluck' ich's. Das ist in mir drin, da ergebe ich mich nicht mit einem 0:2." Am Ende stand es 0:4.

Denn: Erst traf Robert Lewandowski per Elfmeter, den Klinsmann zufolge drei von vier Referees nicht gegeben hätten ("Ich hoffe, dass wir auch mal so eine Gelegenheit bekommen"). Dann komplettierten Thiago (76.) und Ivan Perisic (84.) das Münchner Tore-Quartett. "Natürlich, das Resultat hört sich echt mies an", sagte der Trainer am Montag. "Aber wir haben von Anfang an gesagt: Das Wichtigste ist, dass wir die Punkte gegen die holen, die mit uns in der unteren Tabellenhälfte drinsitzen."

Das kann warten. Am Wochenende spielt Hertha beim Tabellenneunten Wolfsburg, danach gastiert der Tabellenfünfte Schalke in Berlin; erst dann folgen - aber bis zum 21. März - die Wochen der Wahrheit. Hertha steht nur noch zwei Punkte vor dem Relegationsplatz, Nervosität verursacht das nur bedingt. Dass der Abstiegskampf "ein Nervenkitzel" sein würde und "viel Arbeit und Substanz" kostet, sei ihm vorher klar gewesen, sagte Klinsmann. Er sagte aber auch: "Wir ziehen uns da hoch." Denn: "Über die Wochen wird die Mannschaft immer mehr Glauben an sich finden, weil dann die Arbeit immer mehr fruchten wird." Gegen die Bayern habe die Hertha "60 Minuten top dagegengehalten". Und so sei die Pleite am Sonntag "absolut gar kein Beinbruch". Sagte jedenfalls Klinsmann.

© SZ vom 21.01.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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