Hertha BSC:Comandante Cunha

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Eine B-Note gibt’s im Abstiegskampf nicht: Maximilian Eggestein stoppt Matheus Cunha. (Foto: Maja Hitij/Getty Images)

Der brasilianische Stürmer, erst im Winter aus Leipzig gekommen, reißt seine neuen Berliner Kollegen auch gegen Werder Bremen nach frühem 0:2-Rückstand aus der Lethargie - und trifft zum 2:2-Endstand.

Von Javier Cáceres, Berlin

Mateus Cunha kann also auch anders. Anders heißt in diesem Fall: Er kann kniggeverdächtig jubeln. Am Samstag war gut eine Stunde gespielt, als der Brasilianer gegen Werder Bremen sein offiziell zweites, eigentlich aber drittes Saisontor für Hertha BSC erzielt und die Werbebande am Spielfeldrand überwunden hatte. Cunha, 20, breitete den rechten Arm aus, als wäre er ein Flügel, und ließ seine linke Hand zum Brustbogen wandern. Dann legte er lachend eine Reverenz hin, wie sie kein Schauspieler, kein Opernsänger und kein Kabarettist auf einer Bühne der Stadt formvollendeter hinbekommen hätte. "Ich fand die Hertha-Fans schon immer toll", sagte Cunha, was unter anderem eine Vorgeschichte darin hat, dass ein Landsmann aus der nordostbrasilianischen Region Paraíba, Marcelinho, einst Hertha-Held war. "Ich wollte ihnen die Ehre erweisen, weil sie uns in schwieriger Zeit beistehen."

Das Echo von den Rängen war grenzenlos. Und angemessen, obwohl noch gar nicht klar war, dass Cunhas Tor der Treffer zum 2:2-Endstand war, der Hertha einen immens wichtigen Punkt verschaffte - gegen einen Rivalen im Abstiegskampf. Sogar Werders Trainer Florian Kohfeldt sagte später, auf Cunha angesprochen: "Er war als Individualist herausragend." Im Grunde war der 20-Jährige mehr als das.

Nach sechs Minuten hatte der dauerkriselnde SV Werder durch Tore von Joshua Sargent und Davy Klaassen überraschend 2:0 geführt, und als immerhin 58 000 Forensiker im Olympiastadion die Lebenszeichen der Berliner prüften, kamen sie zum gleichen Schluss wie die Werderaner: "Fast tot" sei die Hertha gewesen, sagte später Abwehrspieler Kevin Vogt. Kein Puls war bei der Hertha zu spüren, kein Atem festzustellen, kein Herzschlag zu hören, nicht mal mit dem Stethoskop.

"Ich war besorgt", sagt Cunha über das Chaos, das Klinsmann bei der Hertha anrichtete

Doch dann tauchte Cunha auf, immer wieder Cunha. Mit Gesten irrationaler Rebellion gegen die nicht vorhandene Struktur im Spiel der eigenen Mannschaft, gegen den Mangel an Automatismen, gegen den drohenden Exitus, gegen alles. Mit dem ersten, mit dem zweiten ambitionierten Schuss aufs Tor. Mit Aktionen also, die seine Kameraden glauben ließen: Da geht doch noch etwas. Und siehe da, Cunha behielt Recht. In der 41. Minute bugsierte Verteidiger Niklas Stark, der bei den ersten beiden Gegentoren dramatisch schlecht ausgehen hatte, den Ball per Kopf ins Tor. Und nach der Pause kulminierte eine Drangphase der Hertha mit dem Tor zum 2:2 von Cunha (60.), dem die Verbeugung folgte.

Schon in der Vorwoche (also eine Woche, nachdem ihm sein Debüt-Hackentreffer aus Paderborn von der Deutschen Fußball Liga aberkannt worden war) hatte Cunha mit einem speziellen Jubel für Aufsehen gesorgt. Auch dort, in Düsseldorf, war Hertha früh (nach neun Minuten) ins Hintertreffen geraten, und auch dort hatte Cunha seine Kameraden nach einem 0:3-Rückstand in ähnlicher Weise mitgezogen wie am Samstag - bis zum 3:3. Im Stile eines Kommandanten tut er dies, trotz seines jungenhaften Alters. Vor allem aber hatte er auch in Düsseldorf aufsehenerregend gejubelt: Er deutete mit beiden Händen ausdrucksstark auf seine Lenden; als wollte er zeigen, dass er größere cojones habe als das Ross des Reiterstandbildes von Friedrich dem Großen, das in Berlin Unter den Linden zu begutachten ist.

Es war aber wohl etwas anderes, gewissermaßen ein Appell an die Kollegen, die Skepsis zu vergessen ("diese frühen Gegentore sind auf niemanden zurückzuführen", sagte Cunha am Sonntag), und sich auf eigene Stärken zu besinnen: "Wir sind im Abstiegskampf, ja, aber diese Mannschaft hat Qualität, und ich will dabei helfen, dass sie diese auch abruft", sagte Cunha.

Erst im Januar war der Brasilianer zur Hertha gestoßen, nach anderthalb mäßig erfolgreichen Jahren bei RB Leipzig. Dort ließen sie ihn ziehen, weil er hinter Werner, Poulsen, Schick, Nkunku und Olmo kaum Aussichten auf Einsatzzeiten hatte. Perfekt wurde der Deal, als Cunha in Barranquilla/Kolumbien mit fünf Toren einen erheblichen Beitrag dazu leistete, dass sich Brasiliens U23-Nationalelf für Olympia in Tokio qualifizierte - und sich die Experten in Brasilien sicher waren, "endlich wieder einen echten Mittelstürmer zu haben", wie Luizão am Telefon erzählt, ein Kurzzeit-Herthaner, der 2002 im brasilianischen Weltmeisterkader stand. Perspektivisch ist so ein Mittelstürmer für die Brasilianer von nahezu existenzieller Bedeutung. Denn: "Brasilien ist noch nie ohne Neuner Weltmeister geworden", betont Luizão.

Cunha tauschte einen möglichen Meistertitel im Lebenslauf - mit Leipzig - gegen eine Restsaison bei einer Mannschaft im Abstiegskampf. Und wenn man die Debatten damals richtig verfolgte, war er anfangs nicht davon überzeugt, dass es der richtige Schritt war. Ein Anruf des damaligen Hertha-Trainers Jürgen Klinsmann überzeugte ihn, dann ging Klinsmann ohne Vorankündigung einfach davon.

"Ich saß schon in Kolumbien im Flieger und konnte auf dem Handy nur noch sehen, dass er zurückgetreten war", sagt Cunha dazu. Danach forderten ihn die Stewardessen auf, den Flugmodus einzuschalten. Dass er das Handy nach der Landung direkt wieder einschalten durfte, änderte nichts an einem Grundgefühl: "Ich war besorgt." Dabei konnte er da noch nicht einmal ahnen, in welches Chaos Klinsmann die Hertha stürzen würde - unter anderem mit dem berühmten Tagebuch seiner Amtszeit, das einige Wahrheiten enthielt. Unter ihnen diese: "Mateus Cunha, 20, Megatalent, für 15 Mio. gekauft und große Chance auf Mehrwert." Wegen seiner Tore und eines rebellischen Gemüts, das der Hertha wohl die Klasse halten wird.

© SZ vom 09.03.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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