Hertha BSC:Berliner Dissonanzen

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Da lag die Corona-Diagnose noch nicht vor: Herthas Neuer, Mattéo Guendouzi, am Montag im U21-Länderspiel der Franzosen gegen die Slowakei. (Foto: FREDERICK FLORIN/AFP)

An der Situation in der Hauptstadt zeigt sich exemplarisch, wie schwer es ist, nach der Länderspielpause wieder einen geordneten Spielbetrieb aufzunehmen.

Von Javier Cáceres, Berlin

So richtig viel von Berlin hat Mattéo Guendouzi, die jüngste Sensation im Kader von Hertha BSC, noch nicht gesehen. Der hochbegabte französische Mittelfeldspieler wurde erst am letzten Tag der jüngsten Transferperiode, Anfang Oktober, per Leihe beim FC Arsenal ausgelöst, und danach ging er nach Frankreich, um in der U 21-Auswahl Dienst an der Grande Nation zu leisten. Am Mittwoch wollte er eigentlich das tun, was Neu-Berliner am meisten schreckt: die Stadtverwaltung aufsuchen. Doch er musste den Behördengang genauso verschieben wie alle anderen Tätigkeiten, die mit zwischenmenschlichen Begegnungen einhergehen. Das Fußballtraining zum Beispiel. Oder einen möglichen Einsatz beim Bundesligaspiel der Hertha am Samstag gegen Aufsteiger VfB Stuttgart. Nach seiner Rückkehr aus Frankreich wurde Guendouzi positiv auf Corona getestet; er ist zwar symptomfrei, muss aber im Hotelzimmer bleiben. Der "worst case" sei eingetreten, klagte Hertha-Trainer Bruno Labbadia am Donnerstag und zuckte resigniert mit den Achseln: "Es bringt nichts zu jammern."

Würde er das nicht bloß im übertragenen, sondern im Wortsinn tun - seine Schultern würden sich längst am Rande der Luxation bewegen. Die zähe Einkaufstour auf dem Spielermarkt, die Coronakrise und die Abstellungen seiner besten Profis zu Länderspielen haben die vergangenen Wochen objektiv peinvoll gestaltet. Am Donnerstag, zwei Tage vor dem Spiel gegen den VfB, standen nur elf Spieler auf dem Trainingsplatz, unter anderen waren der Brasilianer Mateus Cunha, der Kolumbianer Jhon Córdoba und der Paraguayer Omar Alderete noch nicht von ihren transkontinentalen Ausflügen zurückgekehrt, bei denen sie zusammen auf 60 Sekunden Einsatzzeit kamen. Die fehlende Mannschaftsstärke bei den Exerzitien war aus Hertha-Sicht schon deshalb bedauerlich, weil diverse Abwehrprobleme zu beheben sind. Inklusive dem Pokalspiel beim Zweitligisten Eintracht Braunschweig hat Hertha 13 Gegentore in vier Pflichtspielen hinnehmen müssen. Vor allem aber wäre eine störungsfreie Vorbereitung auf das Spiel gegen den VfB aus Hertha-Perspektive schon deshalb wünschenswert, weil ein Sieg die Dissonanzen dämmen würde, die in der Stadt zu hören sind: Während Labbadia und Manager Michael Preetz zuletzt um Geduld mit der neufomierten, jungen Hertha-Mannschaft warben, forderte Aufsichtsrat Jens Lehmann als Vertreter von Investor Lars Windhorst, der bald 374 Millionen Euro in die Profiabteilung gepumpt haben wird, größere Ambition ein.

"Das Ziel ist allen bei Hertha klar. Und das heißt: Qualifikation für den europäischen Fußball", teilte Lehmann via Sport-Bild mit und erntete verbale Konter. "Jens Lehmann spricht für sich und formuliert möglicherweise seine Erwartungen oder die des Investors. Wir formulieren die Ziele von Hertha BSC", sagte Preetz am Donnerstag - und mühte sich dabei, nicht allzu genervt zu klingen. Was keine einfache Übung zu sein schien. Zumal Preetz mahnte, den Gesamtkontext nicht aus dem Blick zu verlieren. Einerseits, weil erst drei Bundesligarunden gespielt seien. Andererseits, weil es "in diesem Moment auch wirklich dringendere Fragen zu klären gibt als den sportlichen Ausgang dieser Saison".

Die "dringenderen Fragen" kreisen, gerade im Risikogebiet Berlin, um die Coronakrise, sie hat auch hier zu Einschränkungen des öffentlichen Lebens geführt. Am Donnerstag ging Hertha freilich davon aus, dass das Spiel wie geplant vor knapp 5000 Zuschauern stattfinden könne.

Die Kulisse aber muss geräuscharmer sein als das Publikum eines Golfturniers vor einem Putt am letzten Loch. In der aktuellen Fassung der Berliner Infektionsschutzverordnung heißt es nämlich, dass Fan-Gesänge und Sprechchöre "zu unterlassen" seien. Den Besitzern von Eintrittskarten werde dies schriftlich mitgeteilt; zudem soll es entsprechende Durchsagen durch den Stadionsprecher geben, erklärte Hertha-Sprecher Max Jung.

In Berlin war die Frage der A-Capella-Beschallung von den Rängen zum Politikum geworden. Denn vor gut einer Woche war es bei einem Testspiel von Herthas Stadtrivalen 1. FC Union im Stadion An der Alten Försterei gegen Hannover 96 zum Absingen von Liedern gekommen, obwohl es bereits verboten war. Die Zuschauer waren auf das Verbot nicht ausdrücklich hingewiesen worden. Von einer Strafe sah das Gesundheitsamt Treptow-Köpenick nach Angaben des regionalen Senders RBB ab, wegen einer Regelungslücke: Im Bußgeldkatalog gebe es keinen Passus, der eine pekuniäre Maßregelung rechtfertigen würde, hieß es.

© SZ vom 16.10.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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