Handball:In 24 Minuten den Rekordmeister geschockt

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Lemgo feiert nach dem furiosen Halbfinalsieg gegen den THW Kiel. (Foto: Martin Rose/Getty Images)

Im Halbfinale des DHB-Pokals entreißt der TBV Lemgo dem großen THW Kiel einen Sieben-Tore-Vorsprung - Stefan Kretzschmar spricht von "einem der größten Handballwunder" der vergangenen Monate.

Von Carsten Scheele, München

Klarer Fall von dumm gelaufen. Der schwedische Torwart Peter Johannesson stand gerade beim TV-Interview, als seine Mitspieler einen der schönsten Momente der vergangenen 15 Monate feierten. Im Halbfinale des DHB-Pokals durfte der TBV Lemgo erstmals in der Pandemie vor einem Teil seiner Fans spielen, also wurden vor immerhin 1600 Zuschauern Dinge angestellt, die zuletzt keinen Spaß gemacht hätten: alle hinsetzen, alle aufstehen, humbatätärä. Johannesson schaute in der Hamburger Arena ein paar Mal nach hinten zu seinen hüpfenden Mitspielern, konstatierte dann pflichtbewusst ins Sky-Mikrofon: "Wir konnten nur noch gewinnen."

Über dieses Halbfinale gegen den THW Kiel sollte der frühere Nationalspieler Stefan Kretzschmar später sagen, er wisse nicht, "wann ich zuletzt so ein Handballspiel gesehen habe". Dies sei gewiss "eines der größten Handballwunder, das wir in den letzten Monaten erlebt haben". Sieben Tore hatte das sportlich in den vergangenen Jahren merklich geschrumpfte Team aus Lemgo, der deutsche Meister von 1997 und 2003, zur Halbzeit zurückgelegen - gegen eine titelgestählte Truppe wie den Rekordmeister aus Kiel ist das normalerweise ein Fingerzeig, dass ein solches Spiel nicht mehr gut enden wird. Schlimmstenfalls mit einer Blamage.

Für Kiel ist es die zweite schwere Enttäuschung der vergangenen Wochen

Doch der TBV brachte es fertig, den favorisierten Kielern die Partie noch zu entreißen. In der ersten Halbzeit hatte Kiel gespielt, wie man es kennt, in der 36. Minute führte der THW immer noch 21:14, es folgten 24 irrwitzige Minuten. Lemgo holte Tor um Tor auf, in der 56. Minute ging der TBV erstmals in Führung, 28:27. Neun Sekunden vor Schluss lenkte der famose Keeper Johannesson den letzten Wurf von Kiels Rückraumwerfer Harald Reinkind an die Latte. Er habe "einfach nur reagiert", sagte der Torwart, "so einen Wurf will man halten, wenn man sieben, acht Mal in der Woche trainiert". Als er sein Interview beendet hatte, folgte die nächste Belohnung, Johannesson durfte zurück zu seinen Kollegen.

Andere Beteiligte wirkten nach dem 29:28 eher fassungslos, etwa Lemgos Jonathan Carlsbogard, der erklärte, er habe "keine Ahnung, was hier passiert ist". Auch Kiels Domagoj Duvnjak gestand: "Ich bin geschockt." Und TBV-Coach Florian Kehrmann berichtete stolz: "Wir waren für jeden in Handball-Deutschland zur Halbzeit schon tot." Er habe seinen Spielern in der Pause gesagt, "dass sie weiter Herz zeigen sollen, ganz egal, wie das Spiel ausgeht". Den Anspruch auf den Trainerkniff des Jahres erhob Kehrmann anschließend aber nicht, er blieb ehrlich: "Das klappt nur in einem von zehn Fällen."

Für den THW Kiel ist es die zweite schwere Enttäuschung der Spätphase der Corona-Spielzeit. Der Rekordmeister fühlte sich gut gewappnet für die Titelentscheidungen im Mai und Juni, musste aber die Titelverteidigung in der Champions League (Aus gegen Paris Saint-Germain) ebenso frühzeitig abschreiben wie nun den verspätet vergebenen Pokaltitel aus dem Jahr 2020. Im Finale stehen sich am Freitagabend der TBV Lemgo und MT Melsungen gegenüber. Dass der Pokalsieger nicht THW Kiel heißen wird, war da schon die größte Überraschung.

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