Handball:Jenseits der Füchse

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Bewies bei einigen personellen Entscheidungen Mut: Handball-Bundestrainer Dagur Sigurdsson hat zehn intensive Monate erlebt. (Foto: Guillaume Horcajuelo/dpa)

EM-Qualifikation geschafft, neue Leute integriert: Die erste Bilanz von Bundestrainer Dagur Sigurdsson fällt positiv aus.

Von JÖRG MARWEDEL, Kiel

Ja, sagte der unaufgeregte Dagur Sigurdsson, als das letzte Saisonspiel des deutschen Handball-Nationalteams mit einem 31:29-Sieg gegen Österreich beendet war, nun werde er nach Hause fahren. Nach Berlin-Charlottenburg also, weil seine Kinder noch zur Schule müssen. Später werde man nach Island in die Heimat fliegen, um auszuspannen. Es sei "eine harte Saison gewesen, nach der jeder Knochen wehtut", hat er noch gesagt und das nicht allein auf die Spieler bezogen. Doch seine Arbeit, die zehn Monate aus einem Doppeljob bei den Berliner Füchsen in der Bundesliga und beim Nationalteam bestand, hat er vorübergehend "zufrieden und stolz" beendet. Der siebte Platz bei der WM 2015 in Katar war ja nur der Anfang des Aufwärtstrends, er fand mit der Qualifikation für die Europameisterschaft in Polen im Januar 2016 seine Fortsetzung - und soll 2019 bei der WM in Deutschland und Dänemark "in der Weltspitze" enden. So erwartet es DHB-Vizepräsident Bob Hanning.

Gegen Österreich hat Sigurdsson ein "schönes Spiel mit vielen jungen Leuten auf der Platte" gesehen. 23,75 Jahre im Schnitt waren die 14 Spieler alt. Es war eines der jüngsten A-Teams, das je aufgeboten wurde. Okay, die Partie hatte auf den ersten Blick keinen sportlichen Wert mehr. Aber es war typisch für den Jugend-Förderer Sigurdsson, dass er kurz nach dem für die EM-Qualifikation entscheidenden 34:20 in Finnland vier erfahrene Spieler (Kapitän Gensheimer, Rückraumschütze Weinhold, die Torhüter Heinevetter und Lichtlein) früher in den Urlaub schickte, um Talente in Augenschein zu nehmen.

Der von Hanning als "Glücksgriff" bezeichnete Isländer hat nach vielen Rückschlägen (Verpassen von Olympia 2012 in London; WM-Teilnahme 2015 nur dank einer Wildcard) eine neue Basis geschaffen. Er hat Talente gefördert, die auch der Bundesliga, der angebliche stärksten Liga der Welt, perspektivisch Impulse geben dürften. Einige dürften die Liga bereichern, ähnlich wie die vielen französischen und spanischen Weltmeister in den Klubteams. "Es wächst eine starke Generation heran", prophezeit der Bundestrainer.

Das war in Ansätzen durchaus zu erkennen bei diesem Schaulaufen in Kiel gegen Österreich. Dass der Berliner Linkshänder Fabian Wiede, 21, in Abwesenheit des Kieler Stammspielers Steffen Weinhold auftrumpfte und acht Tore erzielte, hat Sigurdsson ebenso erfreut wie der Auftritt von Finn Lemke (Lemgo), der "bei der zweiten Welle eine große Rolle spielte". Dass der 21-jährige Yves Kunkel (derzeit Minden, demnächst Balingen) als Linksaußen sein erstes Länderspieltor erzielte, hat ihm ebenso so gefallen wie die Vorstellung seines Berliner Ziehsohnes Paul Drux, 20. Sigurdsson ist insofern eine Gefahr für die Alteingesessenen, weil er bei gleichem Leistungsstand meist den Jüngeren vorzieht.

Der an der Linie temperamentvolle, abseits davon eher ruhige Skandinavier hat die lange darniederliegende Mannschaft wieder auf den Weg gebracht. Er war ja schon als 215-maliger Nationalspieler Islands im zentralen Rückraum derjenige, der das Spiel ordnet. Patrick Groetzki, der Rechtsaußen von den Rhein-Neckar Löwen, drückt es so aus: "Er hat Mut bewiesen bei einigen personellen Entscheidungen, er hat hundert Prozent Vertrauen zu den Spielern und fordert in jedem Training alles." Vor allem hat Sigurdsson das Team taktisch "gefestigt", wie Sigurdsson selbst sagt. Das spiegelt sich in seiner ersten Bilanz: Von den 22 Länderspielen seit Amtsantritt verlor er nur vier, die Formkurve fast aller Spieler entwickelt sich nach oben.

Für Sigurdsson, 42, beginnt jetzt eine neue Ära ohne Klubhandball. Sechs Jahre lang hat er die Berliner Füchse zu einer Top-Adresse im deutschen Handball aufgebaut und dort zwei Titel gewonnen - den deutschen Pokal 2014, den internationalen EHF-Pokal 2015. Dass er erleichtert ist, künftig nur eine Aufgabe meistern zu müssen, ist aus seinen Worten kaum abzulesen: "Mittendrin zu sein und jeden Tag Handball im Kopf zu haben", sei ja auch ein Vorteil gewesen, sagt er über die vergangenen Monate und schiebt hinterher: "Ich werde die Füchse vermissen."

Gleichwohl könne er jetzt seine Verbandsarbeit besser organisieren und auch mal den jungen Trainern helfen. Doch zu 99 Prozent müsse er sich um das A-Team kümmern. Um jene Mannschaft, die er am liebsten nicht nur bis 2017, sondern mindestens bis 2020 betreuen wolle. Also auch dann, wenn sie wirklich wieder zur Weltspitze zählen sollte.

© SZ vom 16.06.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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