Handball-EM:Wiener Schub

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"Es gibt nichts, was wir nicht verbessern müssen": Nach trüben Tagen in Trondheim und dem Zittersieg gegen Lettland hoffen die deutschen Handballer auf ein plötzliches Hoch in der EM-Hauptrunde - Ziel bleibt das Halbfinale.

Von Joachim Mölter, Trondheim

Der Handballer Timo Kastening hat es bei der laufenden Europameisterschaft zu einiger Bekanntheit gebracht - durch den Umstand, dass ihn nicht einmal der Bundestrainer kannte, der ihn in seinen Kader berufen hatte. Zumindest fragte Christian Prokop während einer Auszeit in der Auftaktpartie gegen die Niederlande den jüngsten seiner drei Turnierneulinge: "Wie heißt du?" Später erklärte Prokop die Geschichte mit einer Wortfindungsstörung in einer Stresssituation. Kastening, mit 1,80 Meter und 78 Kilogramm der Kleinste und Leichteste im deutschen Team, nahm es mit Humor. Er ist ja schon froh, überhaupt dabei zu sein bei diesem Turnier. Da werden ihn die Leute schon noch kennenlernen.

Der 24-Jährige vom TSV Hannover-Burgdorf hat die Rechtsaußen-Position des nicht berücksichtigten Patrick Groetzki übernommen - und auch dessen Zuständigkeit innerhalb der Mannschaft für die Musikauswahl. In beiden Aufgaben gibt Kastening sein Bestes. Am Montagabend steuerte er vier Tore bei zum mühsamen 28:27 (16:11) über Lettland, mit dem sich die deutsche Mannschaft für die Hauptrunde qualifizierte; anschließend stimmte er die Kollegen in der Kabine auf die nächste Etappe ein: mit "Vienna Calling", einem Hit des österreichischen Sängers Falco aus den Achtzigerjahren.

Vom Umzug aus dem Vorrundenspielort Trondheim in die österreichische Hauptstadt Wien erhoffen sich die deutschen Handballer einen Energieschub. Sie haben träge, trübe, traurige, dunkle Tage durchlebt in der mittelnorwegischen Stadt, wo die Sonne schon mittags wieder hinter den Häusern versinkt. "Die beste Laune verbreitet das hier nicht, wenn man den ganzen Tag aus dem Hotelzimmer guckt und denkt, es ist immer noch Nacht", gab Julius Kühn zu, der mit acht Toren der beste Werfer gegen Lettland war. Die Leistungen der Deutschen trugen bisher allerdings auch nicht dazu bei, die Stimmung aufzuhellen.

Nach dem Pflichtsieg über die Niederlande (34:23) wurde die Auswahl des Deutschen Handballbundes von Titelverteidiger Spanien "auseinandergenommen", wie Bundestrainer Prokop zugab. Nun folgte der schwer erzitterte Sieg über den EM-Neuling Lettland. "Das haben wir uns anders vorgestellt", sagte Kühn. Die Partie sollte dazu dienen, Selbstbewusstsein zu tanken nach der demoralisierenden Spanien-Niederlage (26:33). "Es ist klar, dass du nicht vor Selbstvertrauen strotzt, wenn du gegen Lettland nur mit einem Tor Vorsprung gewinnst", bilanzierte Kastening.

Statt anzudeuten, dass sie in der Lage ist, jeden Gegner zu schlagen, hat die deutsche Mannschaft bestätigt, dass sie gegen jeden Gegner in Schwierigkeiten geraten kann, selbst gegen einen unbedarften wie Lettland, der überwiegend mit Zweit- und Drittligahandballern aus Deutschland und Frankreich agiert. Trotz eines komfortablen Sieben-Tore-Vorsprungs (24:17/43. Minute) geriet der Sieg noch in Gefahr. Warum im Angriff nichts mehr ging, sich in der Abwehr plötzlich Lücken auftaten und die Torhüter keinen Ball mehr zu fassen bekamen, konnte nach dem Schlusspfiff keiner erklären: "Julius Kühn war der Einzige, der brillant gespielt hat", fand Kreisläufer Patrick Wiencek: "Er hat uns am Ende allen den Arsch gerettet."

Der Hochgelobte selbst forderte: "Wir müssen ehrlich zu uns selbst sein und die Fehler aufarbeiten. Wir haben immer fünfzehn, zwanzig Minuten, wo wir die Konzentration verlieren." Auch der Neuling Kastening sprach davon, "die Taktik deutlich besser einzuhalten". Sogar ihm war aufgefallen: "Am Ende hat sich jeder eine kleine Auszeit genommen, und wenn sich jeder eine Auszeit nimmt, sind das sieben Tore - und der Gegner ist wieder dran."

Die deutschen Handballer sind also gerade noch einmal davongekommen, mit dem Schrecken, mit einem blauen Auge, in jedem Fall schwer angeschlagen. "Es gibt nichts, was wir nicht verbessern müssen", fand Kai Häfner, der rechte Rückraumspieler, mit null Toren bei vier Würfen der glückloseste Deutsche am Montagabend. Die Verbesserungen müssen schnell gelingen, am Donnerstag geht es in der Hauptrunde weiter, zunächst gegen Weißrussland. "Wir sind nicht in der Situation, einen Gegner zu unterschätzen. Da muss sich keiner Sorgen machen", versicherte Christian Prokop. Es folgen die Duelle mit Kroatien (Samstag), Österreich (Montag) und Tschechien am folgenden Mittwoch.

Die DHB-Auswahl ist bei dieser EM mit dem Ziel Halbfinale angetreten. Daran wollten die Verantwortlichen nichts ändern, als sich die verletzungsbedingten Absagen vor dem Turnier häuften, vor allem im Rückraum. Und davon wollen sie auch jetzt nicht abrücken. Andererseits forderte Kapitän Uwe Gensheimer, die Ansprüche runterzuschrauben, und auch Bundestrainer Prokop bat, "dass die Erwartungshaltung realistisch bleibt. Natürlich sieht man, dass wir noch nicht in den Leistungssphären sind, die man für ein eventuelles Halbfinale bräuchte. Unsere Chance liegt jetzt im Steigerungspotenzial."

Viel Zeit, das Steigerungspotenzial auszuschöpfen, hat die Mannschaft aber nicht mehr. Spätestens am Samstag muss sie sich gegen Kroatien bewähren, den vermeintlich härtesten Konkurrenten um den Halbfinaleinzug. Kühn hofft auf die Unterstützung vieler deutscher Fans, die in Wien erwartet werden: "Wir haben alle gesehen, was voriges Jahr in Deutschland los war", erinnerte er an die Heim-WM 2019, bei der das Publikum die DHB-Auswahl beflügelte und ins Halbfinale trug. "Das gibt natürlich zusätzliche Motivation", glaubt Kühn, "und dann ist es auch möglich, sich aus dem Tief rauszuspielen."

© SZ vom 15.01.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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