Handball:Christian Dissinger ist der Badstuber des Handballs

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Christian Dissinger (li.): Muss sich selber schützen in seinem Sport (Foto: Janek Skarzynski/AFP)

Eines der größten Talente des Handball-Nationalteams nimmt sich mit 24 Jahren eine Auszeit wegen zu hoher Belastung. Christian Dissinger ist ein Opfer seines Sports, der alle Hilferufe ignoriert.

Von Saskia Aleythe

Als Christian Dissinger Olympia-Bronze holte, lag er auf dem Sofa. Als Christian Dissinger Europameister wurde, saß er hinter der Auswechselbank im Publikum. Zwei Medaillen hat der 24-Jährige mit der deutschen Handball-Nationalmannschaft in diesem Jahr gewonnen, beide Male wühlte er sich mit dem Team ins Turnier - und verletzte sich dann so schwer, dass er nicht mehr mitspielen konnte. Nun sagt der Rückraumspieler vom THW Kiel: "So kann es nicht weitergehen." Für die kommenden zwölf Monate will er sich eine Auszeit von der Nationalmannschaft nehmen. Als eines der größten Talente.

Dissinger ist in dieser Hinsicht so etwas wie der Holger Badstuber des Handballs. Hochveranlagt, begehrt, gezeichnet - bei der Junioren-WM 2011 wurde er als wertvollster Spieler des Turniers ausgezeichnet. Danach: Zwei Kreuzbandrisse, allein in diesem Jahr verletzte er sich vier Mal folgenschwer. Pech? Ja, sagt Dissinger in einem Interview mit der FAZ, fügt aber an: "Zurzeit ist diese Belastung zu viel für mich. Aus Sportmarketing-Gesichtspunkten ist der Terminkalender der Handballer vielleicht sinnvoll, betrachtet man die Belastung der Spieler, ist er das sicher nicht." Dissinger ist gewissermaßen ein Opfer seines eigenen Sports.

"Es ist zu viel"

Bei der EM in Polen war Dissinger bis zu seiner Verletzung zusammen mit Steffen Weinhold der erfolgreichste Feldtorschütze der Deutschen, dann bekamen beide Adduktorenprobleme und fielen aus. Im März zog sich Dissinger im Training mit der Nationalmannschaft einen Meniskusriss zu. "Regenerationszeiten für Spieler sind zwischen den Spielen und den Turnieren viel zu kurz angesetzt", sagt er, "ich habe dreieinhalb Wochen nach dem Meniskusriss wieder gespielt." Im Juni kam die nächste Muskelverletzung bei einem DHB-Lehrgang, im August bei den Olympischen Spielen musste er sogar notoperiert werden. Ein schwerer Bluterguss am Oberschenkel verhinderte die Durchblutung, von den insgesamt drei Operationen hat er heute eine 30 Zentimeter lange Narbe. Und bisher noch nicht wieder gespielt.

Von den vergangenen acht Monaten sei er fünf verletzt gewesen, sagt Dissinger, "diese Verletzungen sind auch der Überbelastung geschuldet". Allein mit dem THW Kiel spielt er in drei Wettbewerben: Champions League, Pokal und Bundesliga. Das kombiniert mit der Nationalmannschaft bedeutet dann: Fast alle drei Tage ein Spiel, dazwischen die Reisen. "Handballer haben eine unglaubliche Willenskraft", sagt Dissinger, "aber es gibt immer mehr Grenzfälle, die beweisen: Es ist zu viel."

2016 ist ein Jahr, in dem der deutsche Handball eine Hochphase erlebt, die selbst Optimisten so kaum vorhersagen konnten. 2012 hatte das Team Olympia in London verpasst, 2014 die EM in Dänemark. Mit neuem Trainer, der sich die richtigen Talente zusammensuchte, gelang nun gleich wieder der Sprung an die Weltspitze. Dissinger ist so ein Talent, bei der WM im Januar in Frankreich könnte er wieder um eine Medaille kämpfen, mit 25 Jahren vielleicht Europameister und Weltmeister gleichzeitig sein. Stattdessen nun die Auszeit - ein erstaunlicher Vorgang. Bundestrainer Dagur Sigurðsson sei "nicht begeistert" gewesen, berichtet Dissinger, "aber er versteht auch meinen Schritt. Dafür bin ich ihm dankbar."

Um die Belastung der Spieler wird im Handball seit Jahren gestritten, freiwillige Rücktritte aus der Weltmeister-Generation von 2007 sammelten sich. Johannes Bitter ging mit 28 Jahren, als einer der besten Torhüter der Welt, Holger Glandorf ebenfalls. Beide verbindet aber auch: So richtig attraktiv war die Nationalmannschaft aufgrund ihrer Erfolglosigkeit nicht mehr. Bei Dissinger ist das nun ganz anders.

Sein Vereinstrainer Alfreð Gíslason findet die Belastung für Nationalspieler "absurd", der THW Kiel hatte in diesem Jahr besonders viele Ausfälle zu verkraften und blieb erstmals seit 13 Jahren ohne einen Titel. "Eigentlich müsste ich an die Nationalspieler appellieren, auf Länderspiele zu verzichten", sagte er im Mai. Dass jedes Jahr eine EM oder WM gespielt wird, stört viele Trainer.

Auch dass in der Bundesliga nur 14 Spieler für die Benennung des Kaders erlaubt sind statt 16 wie in anderen europäischen Ligen, wird als Belastung empfunden. Personal, um Verschnaufpausen zu ermöglichen, gibt es da wenig. Der ehemalige tschechische Welthandballer Filip Jícha und der Isländer Aron Pálmarsson spielten lange Jahre in Kiel, 2015 verließen sie den Verein, aus unterschiedlichen Gründen. Beide entschieden sich aber auch deshalb fürs Ausland, weil ihnen der volle Terminplan in der Bundesliga zu schaffen machte.

Für den deutschen Handball könnte der Fall Dissinger nun eine dringliche Warnung sein. Doch der hat aktuell noch andere junge Rückraumtalente wie Paul Drux, Julius Kühn oder Kai Häfner. Nach einem Umdenken im Sport sieht es trotz der jahrelangen Debatten ohnehin nicht aus: Erst vor einem Jahr wurde die Champions League aufgestockt von 24 auf 28 teilnehmende Mannschaften.

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