Gina Lückenkemper:"Bei uns ist es halt nicht wie im Fußball"

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Hat große Ziele für die Heim-EM: Sprinterin Gina Lückenkemper. (Foto: dpa)

Gina Lückenkemper ist Deutschlands bekannteste Leichtathletin. Vor dem EM-Start in Berlin spricht die 100-Meter-Läuferin über Versagensängste, Neuro-Athletik und Sprinten in der Hitze.

Aufgezeichnet von Joachim Mölter, Kienbaum

Gina Lückenkemper, 21, ist derzeit die wohl bekannteste Leichtathletin Deutschlands. 2016 holte sie, noch als Teenager, EM-Bronze über 200 Meter, im vorigen Jahr legte sie bei der WM in London die 100 Meter als erste Deutsche seit 26 Jahren in weniger als elf Sekunden zurück - 10,95. Bei den am Dienstag beginnenden Europameisterschaften in Berlin ist die für Bayer Leverkusen startende Sprinterin gleich am ersten Abend über 100 Meter am Start; vorher nahm sie im Trainingslager des Deutschen Leichtathletik-Verbandes (DLV) noch Stellung zu ihren Zielen.

Frage: Deutschland ächzt gerade über die Hitze. Wie ergeht es Ihnen damit?

Gina Lückenkemper: Wir Sprinter lieben es warm. Ab 25 Grad aufwärts ist für uns das optimale Wetter. Die Muskulatur arbeitet dann wirklich hervorragend, es macht Spaß zu rennen bei solchen Temperaturen. Mir ist es in jedem Fall lieber als Regen und 17 Grad, wie wir das vor zwei Wochen bei den deutschen Meisterschaften in Nürnberg hatten. Da wäre mehr möglich gewesen als die 11,15 Sekunden, die ich über 100 Meter gerannt bin.

Ihre Saisonbestzeit steht bei 11,07 Sekunden, für eine Medaille bei der EM wird man wohl unter elf Sekunden laufen müssen, oder?

Ich denke, dass es so kommen wird, es sei denn, die Bedingungen schlagen jetzt noch mal komplett um.

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Und eine Medaille ist auch Ihr Ziel?

Ich hab am Anfang der Saison schon gesagt, ich möchte von den Europameisterschaften mit zwei Medaillen nach Hause fahren. Dieses Ziel besteht nach wie vor.

Für dieses Ziel haben Sie zuletzt vor allem an Ihrer Reaktionsschnelligkeit geübt.

Im Normalfall ist es so: Entweder man kann schnell reagieren oder man kann's nicht. Bei mir war es aber so: Ich könnte schnell reagieren, habe im Startblock aber immer nachgedacht, über die unsinnigsten Sachen.

Zum Beispiel?

Gleich kommt der Schuss. Gleich musst du aus dem Block. Gleich rennst du 100 Meter.

Und was ist falsch daran?

Wenn man denkt, gleich kommt der Schuss, und er kommt dann irgendwann, dann denkt man: Aha, da war er - und dann rennt man erst los. Die Verankerung im Hirn aber sollte sein: Schuss, los. Und nicht: Schuss - aha! - Bewegung.

Und wie haben Sie das jetzt geändert?

Mit Neuro-Athletik. Das steckt in Deutschland noch in den Kinderschuhen, aber es bekommt mehr Bedeutung. Dabei geht es im Grunde um das Verständnis des Nervensystems.

Wie hat das Ihnen im konkreten Fall geholfen?

Ich habe mit meinem Neuro-Athletik-Trainer Lars Lienhard viele verschiedene Dinge ausprobiert in den letzten Jahren. Jetzt haben wir dieses unnötige Denken im Startblock ausgeschaltet, indem ich meinen Frontallappen im Hirn aktiviere. Dadurch denke ich nicht mehr so viel und kann schneller reagieren. Wenn man sich meine letzten Rennen anschaut, dann wird das kontinuierlich besser: Meine übliche Reaktionszeit am Start liegt bei mehr als 0,2 Sekunden, in Lausanne hatte ich neulich 0,14 - das sind Welten.

Sie starten bei der EM über 100 Meter und in der 4x100-Meter-Staffel, aber nicht über 200 Meter, wo sie vor zwei Jahren in Amsterdam Bronze geholt haben.

Es ist schade, dass ich es in diesem Jahr nicht geschafft habe, einmal die 200 Meter zu rennen; da gab's mehrere Umstände, die das nicht ermöglicht haben. Ich habe über 200 Meter also gar keine Qualifikation für die EM. Alle drei Sprintstrecken wären auch ein Mammutprogramm gewesen; ich glaube nicht, dass ich das in diesem Jahr schon hätte packen können, einfach aufgrund meines Alters. Ich wäre allerdings gern in der Position gewesen, mir auszusuchen, über welche Strecke ich an den Start gehe. Und ich habe mir schon das Ziel gesetzt, dieses Mammutprogramm im nächsten Jahr anzupacken.

Ihr Programm ist auch für dieses Jahr schon nicht schlecht.

Ich bin mir bewusst, dass es alles andere als ein Zuckerschlecken wird, über 100 Meter und auch mit der Staffel. Die Konkurrenz ist echt extrem. Aber ich bin positiv gestimmt. Es ist eine Heim-EM, und wenn ich da im Stadion 50 000 Leute hinter mir habe, bin ich zu einigem fähig.

Versagensängste haben Sie nicht?

Nein. Wenn's scheiße läuft, dann läuft's scheiße. Das kann immer mal passieren, that's life, das ist Leistungssport. Bei uns ist es halt nicht wie im Fußball: Wenn du da einen schlechten Tag hast, fällt's nicht auf, weil dein Team dich auffängt. Bei uns ist die Leistung direkt messbar, wenn's schlecht läuft, sehen das alle. Aber ich bin zuversichtlich: Ich weiß, dass ich schnell rennen kann, sonst wäre ich nicht hier.

Wen sehen Sie als Hauptkonkurrentinnen?

Dina Asher-Smith, die Britin, die im Moment extrem stark ist - die ist in dieser Saison schon dreimal unter elf Sekunden gelaufen. Dann haben wir eine Schweizerin, Mujinga Kambundji, die jetzt auch schon 10,95 gerannt ist. Mit Dafne Schippers muss man auch immer rechnen (die Titelverteidigerin aus den Niederlanden; Anm. d. Red.), die ist ein Meisterschaftstyp, auch wenn sie in dieser Saison noch nicht zu hundert Prozent ins Rollen kommt. Und mit Tatjana Pinto muss man auch immer rechnen (die aktuell zweitbeste Deutsche; Anm. d. Red.). Wenn sie fit an den Start geht, wird das ordentlich brutal werden. Es gibt einige, die in der Lage sind, großartige Zeiten zu rennen, und ich hoffe, dass ich eine von denen bin.

Als eine der aktuell zwölf besten Sprinterinnen Europas sind Sie direkt fürs Halbfinale gesetzt und dürfen den Vorlauf aussetzen - ist das ein Vorteil oder eher ein Nachteil?

Über 200 Meter sehe ich das als Vorteil, wenn man keine Vorrunde laufen muss, da ist die Belastung ja noch mal eine ganz andere. Über 100 Meter hätte es mich nicht gestört, am Vortag schon mal zu rennen. Ich bin aber auch nicht böse, dass ich es nicht muss. So habe ich einen Tag mehr Zeit, mich und meinen Körper vernünftig vorzubereiten.

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