Fußballhistorie:Schlachten, Mythen, Svensationen

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Die wohl beste deutsche Mannschaft der Geschichte um Günter Netzer (rechts) feiert 1972 im EM-Viertelfinal-Hinspiel ein 3:1 im Wembley-Stadion - der erste Sieg gegen England auf englischem Boden (im Bild: das 0:0-Rückspiel in West-Berlin). (Foto: Colorsport/Imago)

Ein Klassiker, ja, aber warum noch mal? Eine Geschichte der Duelle, die Deutschland gegen England zu einem besonderen Spiel machen.

Von SZ-Autoren

Alles übertrieben, alles nicht so wild, schrieb dieser Tage die englische Zeitung Guardian: England gegen Deutschland im Fußball, "in der Realität ist es gar keine Rivalität". Schließlich seien Deutschlands wahre sportliche Kontrahenten jene Nationalteams, die in der Vergangenheit häufiger um Titel mitspielten als England. Demgegenüber steht allerdings die Feststellung von Franz Beckenbauer: "We call it a Klassiker", sagte er englischen Reportern, als er noch als Fußballkaiser amtierte. Und entsprechend legendäre Aufeinandertreffen gab es ja allemal.

1966

Im WM-Buch "England 1966" von Wilhelm Fischer, erschienen eine Woche nach dem Finale von Wembley, heißt es so schön: "Der Schiedsrichter wies zur Mitte, Tor, fertig, aus." Ein paar Jahrzehnte später ist die Gelehrtenmeinung über das immer noch berühmteste Tor der Fußballgeschichte eine andere. Das vorentscheidende 3:2 im WM-Finale zwischen England und Deutschland (101. Minute, Endstand 4:2) zählte zwar, unter anderem die Oxford-Universität hat in einer Studie zum "Wembley-Tor" aber belegt, dass der Ball von Geoff Hurst zwar auf der Torlinie aufsprang und den Kalk hochschleuderte, zum vollständigen Überqueren der Linie aber sechs Zentimeter fehlten. Kein Tor also, fertig, aus? Aberkannt wurde jedenfalls nichts, 55 Jahre später ist England immer noch Weltmeister, Geoff Hurst ein bekannter Mann. Und irgendwie wär's ja auch schade gewesen um den weltallerschönsten Fußballmythos.

Ansichtssache, aber nicht für Roger Hunt, der im WM-Finale 1966 die Arme hochriss: "Er war über der Linie - und es ist bewiesen." (Foto: dpa)

1970

Es gibt im Fußball viele berühmte Köpfe: Glatzköpfe (Pierluigi Collina), Lockenköpfe (Carlos Valderrama), Hitzköpfe (Éric Cantona). Den berühmtesten Hinterkopf allerdings trägt Uwe Seeler, der am 14. Juni 1970, einem Sonntag, im WM-Viertelfinale gegen England mit dem Rücken zum Tor eine Flanke mit dem Scheitelbein ( Os parietale) in einer perfekten Parabel über Schlussmann Peter Bonetti ins Netz beförderte. Gespielt wurde in León/Mexiko, wo die Temperatur auf dem Platz zur Anstoßzeit mittags um zwölf knapp unter 50 Grad lag. Umso mehr galt es kühlen Kopf zu bewahren, zumal die Partie vier Jahr nach dem WM-Finale '66 zur "Revanche für Wembley" aufgeblasen wurde. Der Sport-Informationsdienst berichtete von englischen Fans, die in "Gammler- und Hippie-Kleidung mit Bärten und Haaren bis auf die Schultern singend durch die Straßen der Stadt zogen", und schüttelte entrüstet sämtliche Schädelknochen: "Wer sie sah, konnte kaum glauben, dass sie auf dem Weg zu einem Fußballspiel waren." Die Deutschen lagen kurz nach der Pause schon 0:2 zurück, ehe Franz Beckenbauer und Seelers Hinterkopf die Verlängerung erzwangen, in der Gerd Müller dann das 3:2 schoss. Die "Hitzeschlacht von León" war gewonnen, das "Jahrhundertspiel" gegen Italien sollte folgen.

Begegnung mit Geschichte: Die Kapitäne Bobby Moore (links) und Uwe Seeler (rechts) vor der "Hitzeschlacht von León" im WM-Viertelfinale 1970. (Foto: Werek/Imago)

1972

Erst recht nach 1966 galt das Wembley-Stadion für deutsche Fußballer als uneinnehmbare Festung. Seit 1908 konnte kein deutsches Team hier gewinnen, bis eine extrem verjüngte, von Günter Netzer dirigierte Elf am 29. April 1972 eine der besten Leistungen der DFB-Historie überhaupt ablieferte, wie der damalige Bundestrainer Helmut Schön urteilte. Die Voraussetzungen erschienen eher schlecht: Berti Vogts, Wolfgang Overath und Wolfgang Weber fielen aus, Sepp Maier spielte im Tor mit einem Schaumverband um den Ellenbogen, für die Stammkräfte rückten Uli Hoeneß, Paul Breitner, beide 20, und Katsche Schwarzenbeck, 24, ins Team. Bei England standen immerhin fünf Weltmeister von 1966 auf dem Platz, doch die junge DFB-Elf stürmte so forsch drauflos, dass französische Zeitung L'Équipe gar vom "Traumfußball aus dem Jahr 2000" schwärmte. Deutschland siegte 3:1, Torschützen: Hoeneß, Netzer (Elfmeter) und Gerd Müller. Netzer jubilierte: "Das Spiel war das Größte an Spaß, was ich mir vorstellen konnte."

"We call it a Klassiker": Und daran ist Franz Beckenbauer nicht unschuldig. 1972 führt der "Kaiser" die DFB-Elf entschlossenen Blicks ins EM-Viertelfinal-Hinspiel - und zum ersten Sieg gegen England auf englischem Boden. (Foto: Horstmüller/Imago)

1990

Es war eine "etwas unglückliche Nacht", befand der englische Trainer Bobby Robson mit der Würde eines Mannes, der noch Jahre später um Fassung rang. Das WM-Halbfinale am 4. Juli in Turin begann hoffnungsvoll mit Treffern von Andy Brehme (60.) und Gary Lineker (80.), ehe es in die Verlängerung, dann in die grausame Verknappung, das Elfmeterschießen, ging: Lineker, Brehme, Beardsley, Matthäus, Platt und Riedle trafen. 3:3. Dann wehrte Bodo Illgner den Schuss von Stuart Pearce mit dem Schienbein ab. Thon traf. 4:3. Den nächsten Schützen, Chris Waddle, musterte Illgner "von oben bis unten", wie er erzählte: "Ich glaube, es hat ein bisschen gewirkt." Waddle holte Schwung und ballerte seinen Fehlschuss in den Turiner Nachthimmel hinaus. Ausgerechnet der begabte Waddle, Mittelfeldspieler bei Olympique Marseille, der nie zuvor einen Elfer vergeben hatte. Waren es die Nerven? War es Illgners "diabolischer Penalty-Blick", wie die SZ damals schrieb? Für England folgten Tränen, für Deutschland kurz darauf der Titel.

Aufspringen, schreien, herumkugeln: Olaf Thon, Jürgen Kohler und Klaus Augenthaler (v.l.) nach dem gewonnenen Elfmeter- schießen im WM-Halbfinale 1990. (Foto: Imago)

1996

So oft, wie Gareth Southgate in den vergangenen Wochen auf seinen verschossenen Elfmeter von 1996 angesprochen wurde, könnte man nichts mehr als Mitleid empfinden für die Engländer, die immer wieder ihr Elfmetertrauma bei der Heim-Europameisterschaft durchleben müssen. Andy Möllers Schuss ins Glück, der Jubel der deutschen Mannschaft, all das hat sich tief ins englische Fußballgedächtnis eingeprägt, dabei gäbe es eine gute Möglichkeit zur Trauma-Bewältigung. Zwei Jahre später nämlich, zur WM 1998 in Frankreich, veröffentlichten die Lightning Seeds eine zweite Version ihres großen 96-Hits "Three Lions (Football's Coming Home)". Das Video dazu ist eine Art Schocktherapie, es beginnt nämlich mit Southgates Elfmeter und dem Originalkommentar ("oh, it's saved, it's saved, it's saved"). Dann allerdings beginnt die Band die Zeile "We still believe" zu singen, immer wieder. Und wer am Ende des Liedes immer noch nicht daran glaubt, dass England dieses Trauma eines Tages vollends hinter sich lassen wird, der sollte es einfach noch mal anhören.

Invasion im Wohnzimmer der Queen: 1996 kegeln die Deutschen England im Halbfinale der EM im Londoner Wembley aus dem Wettbewerb. (Foto: Lynne Sladky/AP)

2000/2001

Es waren zwar nur zwei WM-Qualifikationsspiele, doch trotzdem hatten sie zweimal historische Bedeutung. Zunächst, im Oktober 2000, traf Dietmar Hamann mit einem Freistoß zum 1:0-Sieg - flach, hart und so unbarmherzig wie die Bulldozer, die schon am folgenden Morgen begannen, das alte Wembley-Stadion abzureißen, in dem Deutschland das letzte Spiel gewann. Englands Trainer Kevin Keegan trat unmittelbar nach der Partie zurück. Knapp ein Jahr später gelang unter dem neuen Trainer Sven-Göran Eriksson die "Svensation", wie der Sunday Mirror schrieb: Ein 5:1 gegen Deutschland im Münchner Olympiastadion. Hamann war wieder dabei, aber er gehörte wie Linke, Nowotny oder Wörns zu den von Michael Owen Überrannten. Drei Tore schoss der Stürmer, womit er für Deutschlands höchste Heimniederlage seit 1931 sorgte. Es waren für beide Teams Monate voller Skepsis, geprägt jeweils vom Vorrunden-Aus bei der EM 2000. Bei der WM 2002 verloren dann beide erst gegen den späteren Weltmeister Brasilien, England im Viertelfinale, Deutschland im Finale.

Per Freistoß traf Dietmar Hamann (rechts) im Oktober 2000 zum 1:0-Sieg in England - es war das letzte Spiel im alten Wembley-Stadion, Englands Trainer Kevin Keegan trat unmittelbar danach zurück. Ein knappes Jahr später revanchierte sich England mit einem 5:1 in München, der höchsten deutschen Heimniederlage seit 1931. (Foto: Imago)

2010

Das Achtelfinale der Weltmeisterschaft 2010 wurde wie schon die Partie 1966 von einem geschichtsträchtigen Tor bestimmt, das nicht gegeben wurde: Deutschland führte im südafrikanischen Bloemfontein in der ersten Halbzeit nach Toren von Miroslav Klose und Lukas Podolski mit 2:1 gegen England, als Frank Lampard mit einem Schuss aus 17 Metern die Latte traf. Der Ball fiel von dort aus so klar erkennbar hinter die Torlinie, dass alle Welt den englischen Ausgleich sah, nur das Schiedsrichterteam nicht. Auch Manuel Neuer dürfte klar erkannt haben, dass ihm der Ball aus dem Tor wieder entgegensprang. Er trug ebenfalls seinen Teil dazu bei, dass das Spiel weiterging: geistesgegenwärtig fing er den Ball sofort auf und spielte weiter, als wäre nichts passiert. Lampards entgeisterter Gesichtsausdruck blieb zumindest den Engländern im Nachhinein mehr in Erinnerung als der Fakt, dass Deutschland in der zweiten Halbzeit noch zwei weitere Tore schoss und verdient mit 4:1 gewann.

Drin oder nicht drin? Klar drin (das sah sicher auch Manuel Neuer) - zählte aber nicht für die Engländer im WM-Achtelfinale 2010. (Foto: Cameron Spencer/Getty Images)
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