Fußballer Gennaro Gattuso:Beckham aus den Bergen

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Gennaro Gattuso: ein Held beim FC Sion. (Foto: REUTERS)

Christian Constantin, der launische Präsident des Schweizer Klubs FC Sion, hat die Nase von Trainern voll. Nun hat er Gennaro Gattuso als Spielertrainer installiert. Dessen Trikot verkauft sich prima, der Italiener schreibt fleißig Autogramme und dirigiert seine Mitspieler - hat aber keine Trainerlizenz.

Von Samuel Burgener

Christian Constantin bleiben nach dem Reglement 21 Tage Zeit, um eine Trainerlizenz zu besorgen. Dem Architekten, Immobilienhändler und Präsidenten des Schweizer Erstligaklubs FC Sion ist viel zuzutrauen, doch Trainerlizenzen sind meist nur in Kombination mit einem Menschen zu haben. Und ein neuer Mensch mit einer Trainerlizenz könnte für sich in Anspruch nehmen, tatsächlich ein Trainer zu sein. Von Trainern aber hat Christian Constantin die Nase voll.

Zu Wochenbeginn hat er seinen Trainer Victor Muñoz entmachtet. Grund war die 0:4-Niederlage am Sonntag beim Kleinklub FC Thun. Constantin will Meister werden, doch sein Team ist nur auf Rang vier platziert, neun Punkte hinter dem überraschenden Tabellenführer Grasshoppers Zürich. Muñoz war beim FC Sion der vierte Trainer der laufenden Saison, der achte innerhalb eines Jahres und - je nach Zählweise - der ungefähr 32. in 14 Jahren Präsidentschaft von Constantin.

Nun hat Constantin das Vertrauen in die Trainergilde verloren. Darum soll das Team "den Karren selber aus dem Dreck ziehen", wie es in der Medienmitteilung heißt. "Wollt ihr im Pokal gegen Lausanne spielen - oder lieber Fondue essen?", hatte Constantin die Spieler am Montag gefragt. Sie verzichteten auf den geschmolzenen Käse und gewannen am Mittwochabend 2:0.

Die Verantwortung trug der Mannschaftskapitän, und das ist einer, der auf seinen Schultern bereits viel zu tragen hatte: Gennaro Gattuso, 35, Weltmeister mit Italien, Champions-League-Sieger mit dem AC Mailand, als Terrier verschriener Mittelfeldspieler, der seit Sommer für rund 800 000 Euro Jahreslohn für den FC Sion spielt.

Mit Gattusos Verpflichtung ist Constantin ein Coup gelungen. Einen Transfer dieser Kategorie hatte der Schweizer Fußball seit den Engagements von Karl-Heinz Rummenigge und Christian Karembeu bei Servette Genf nicht erlebt. Gattuso wollte seiner schottischen Frau zuliebe zu den Rangers nach Glasgow wechseln, doch die spielen nach dem Zwangsabstieg in der vierten Liga.

Also fiel die Wahl auf Sion, auch wegen der Nähe zur Heimat Mailand. Und Gattuso mag das Wallis, die Berge. Er schätzt den rauen, aber freundlichen Menschenschlag, weil er selbst rau, aber freundlich ist. Und die Walliser, diese Bergler, finden Gefallen an Gattuso, einem der bekanntesten Malocher in der Welt des Fußballs.

Gattusos Trikot verkauft sich besser als der vorzügliche Weißwein der Region, die Fans stehen überall Schlange für Autogramme, und Sion steht im Fokus der Medien. Es ist eine Beckham-Story im Miniaturformat, die in den Bergen spielt statt in Paris: werbewirksam inszenierter Rummel - mit fragwürdigem sportlichem Wert.

Bis jetzt spielte Gattuso nicht überragend. Eine Augenkrankheit plagt ihn - und wenn er die Spielgestaltung an sich reißen muss, wird augenfällig, dass er bei all seinen Erfolgen vorab der Wasserträger des viel begabteren Andrea Pirlo war.

Nun soll Gattuso eine Art Spielertrainer sein. Im Grunde macht er während der Spiele sowieso wenig anderes, als seine Kameraden laut und gestenreich zu dirigieren. Und an Erfahrung mangelt es ihm nicht. Da er aber keine Trainerlizenz besitzt, hat Constantin den geschassten Muñoz als Marionette im Betrieb halten wollen. Doch Muñoz, ein stolzer Spanier, lässt das nicht mit sich machen. Er hat am Dienstag seine Anwälte eingeschaltet.

Ein Team seinem Schicksal oder einem Spielertrainer wie Gattuso zu überlassen, hat im modernen Fußball etwas Revolutionäres. Und in dieser Rolle gefällt sich Constantin. Vor einem Jahr kämpfte er mit einer Kompanie von Anwälten gegen den Weltverband Fifa und die europäische Fußball-Union Uefa. Nach einem ungültigen Spieler-Deal verhängte die Fifa eine Transfersperre für zwei Spielzeiten. Constantin interpretierte die Länge der Sperre eigenwillig und verpflichtete neue Spieler, was die Fifa nicht tolerierte.

Die Folge waren unzählige Gerichtsfälle vor dem Sportgerichtshof in Lausanne und zivilen Gerichten. Constantin war gewillt, in jedem Einzelfall vor den europäischen Gerichtshof in Straßburg zu ziehen. Es ging um das Diktat der Sportgerichtsbarkeit - also um das System. Dem Fußball drohte eine Revolution wie 1995 beim Bosman-Urteil.

Es war auch ein Kampf zweier sturer Alpen-Machos aus dem Wallis. Der eitle Constantin gegen den noch eitleren Fifa-Präsidenten Sepp Blatter. Ende 2011 zog der Schweizer Fußballverband dem FC Sion auf Druck der Fifa in der Meisterschaft 36 Punkte ab. Der Klub hielt die Klasse nur, weil Xamax Neuchâtel unter der Ägide des tschetschenischen Hochstaplers Bulat Tschagajew Insolvenz anmelden musste.

Noch im Sommer deutete alles auf die totale Konfrontation zwischen dem FC Sion und der Fifa hin - doch im August dinierten Blatter und Constantin gemeinsam in einem Gourmet-Restaurant im Weindorf Siders. Und plötzlich waren alle Streitigkeiten beseitigt. Constantin zog alle Klagen zurück. Über die Gründe schweigt er.

Er sorgt sich lieber um die Zukunft. Sollte Gattuso erfolglos sein, wird der Präsident vielleicht bald selbst an der Linie stehen. Das hat er aus Überzeugung und zur Gaudi der Schweizer Medien schon zweimal getan - jeweils nur für einzelne Spiele. Für ein längerfristiges Engagement fehlt ihm die Zeit - und die Trainerlizenz.

© SZ vom 01.03.2013 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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