Fußball:Im Westen alles windschief

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Tut schon beim Hinschauen weh: Der gestolperte Leverkusener Torwart Niklas Lomb sieht, wie der Berner Jordan Siebatcheu den Patzer nutzt und den Ball zum 1:0 ins Netz nickt. (Foto: Martin Meissner/AP)

Bayer Leverkusens Aus in der Europa League hat mehrere Dimensionen: Es forciert die eigene Krise, es verlängert die Pleitenserie der Bundesliga in diesem Wettbewerb - und es bestätigt den Trend, dass eine erfolgreiche Ära der Klubs aus NRW zumindest vorläufig zu Ende gehen kann.

Von Philipp Selldorf, Leverkusen

Schiedsrichter Davide Massa machte einen irritierten Eindruck, als nach der Partie ein Leverkusener Spieler bei ihm vorstellig wurde: Nadiem Amiri, offensichtlich ernsthaft wütend, war extra vorbeigekommen, um sich zu beschweren - aber worüber?

Die Antwort hat vermutlich nichts mit Davide Massas Leistung zu tun, aber umso mehr mit Niklas Lomb und anderen Angehörigen der Mannschaft von Bayer 04 Leverkusen. Während Massa als Spielleiter tadellose Arbeit abgeliefert hatte, ließ sich dieses über die Belegschaft der Werkself nicht sagen. Es wäre jedoch weder klug noch fair gewesen, wenn der Einwechselspieler Amiri seinen Ärger bei den Kollegen oder gar beim Ersatztorwart Lomb abgeladen hätte, der durch eine imponierende Panne beim ersten Gegentreffer zu Bayer Leverkusens bitterem 0:2 (0:1) gegen Young Boys Bern und damit zum frühen Abschied von der Europa League beigetragen hatte. Dann, dachte sich Amiri wohl, doch lieber den italienischen Schiedsrichter beschimpfen, der schon am nächsten Tag wieder weit weg sein wird.

Die Leverkusener Niederlage war keine gewöhnliche Niederlage, denn sie berührt drei Sphären: eine lokale, eine regionale - und eine nationale. Aus der eigenen, der lokalen Betrachtung befördert dieses 0:2 eine sportliche Krise von mittlerweile umfassendem Ausmaß, die kurz vor Weihnachten beim unglücklichen 1:2 gegen die Bayern begann. Aus regionaler Sicht, quasi aus der nordrhein-westfälischen Armin-Laschet-Perspektive, setzt das Europacup-Aus von Bayer einen weiteren Hieb gegen den angeschlagenen Fußball-Standort NRW. Sieht man dann auch noch auf den Schaden, den Leverkusen der Reputation des deutschen Fußballs zugefügt hat, gibt es hier zwar mildernde Umstände - aber auch nur deshalb, weil die Bundesliga in der Europa League ohnehin seit vielen Jahren eine Peinlichkeit an die andere zu reihen pflegt.

Auch diesmal das alte Bild: Während nun Hoffenheim und Leverkusen in der ersten K.-o.-Runde aus dem Feld schieden, war der VfL Wolfsburg bereits in der Qualifikation an AEK Athen hängen geblieben. In diesem rauen Wettbewerb ist das Versagen der deutschen Vereine zur Tradition geworden. Eine Armee der Verlierer formiert sich da über all die Jahre: Mal scheiterte Hertha BSC in Gruppenspielen an Östersunds FC und Sorja Luhansk, mal Mainz 05 im Sommer-Prolog an Gaz Metan Medias, der VfB Stuttgart an HNK Rijeka und Freiburg an NK Domzale. Der bisher letzte deutsche Finalist in der Europa League war Werder Bremen - im Jahr 2009.

Bayer Leverkusens Geschäftsführer Fernando Carro hatte neulich nach dem DFB-Pokal-Aus beim Regionalligisten Rot-Weiss Essen eine seiner öffentlichen Standpauken gehalten, mit denen er regelmäßig zu unterstreichen versucht, dass er Genügsamkeit oder gar Gemütlichkeit nicht dulden werde: "Nachhaltig steigern", "das Maximale herausholen", so lauteten mit Blick auf die übrigen Wettbewerbe seine Erwartungen, die er mit autoritärem Tonfall einforderte. Einen Motivationsschub hat er damit nicht ausgelöst. In der Bundesliga gab es seither für Bayer mühselige Unentschieden gegen Mainz und in Augsburg, beim Hinspiel in Bern (3:4) stand es nach anerkannt katastrophaler Darbietung zur Pause 0:3.

Was Carro am Donnerstag beim Anblick des Rückspiels gegen den Schweizer Meister empfand, hat er noch nicht mitgeteilt - womöglich auch mit Rücksicht auf Sportdirektor Simon Rolfes, der dem Kicker vor der Partie garantiert hatte, dass Cheftrainer Peter Bosz in keiner Weise zur Diskussion stehe. "Wir haben alles versucht - es war nicht genug": In diesem geständigen Satz fasste der Coach selbst die Anstrengungen seiner Elf treffend zusammen. Mangel an Bemühen kann man dem Team nicht nachsagen, von Verstand und Plan war hingegen wenig zu sehen. Sowie die Leverkusener den Platz betreten hatten, rannten sie drauflos, als wären bereits die Schlussminuten angebrochen und es fehlten noch mindestens zwei Tore. Bosz hatte dazu mit der Komposition eines seltsamen Taktikschemas beigetragen: Drei Innenverteidiger agierten hinter zwei Sechsern, von denen einer - Linksaußen Daley Sinkgraven - bei gegnerischem Ballbesitz in die Außenposition wechselte.

Zur windschiefen taktischen Ordnung kam der Torwartfehler des unglücklichen Niklas Lomb, der eine abgefälschte Flanke schon vorbildlich geschnappt hatte - um den Ball dann genau vor Berns Angreifer Siebatcheu wieder fallen zu lassen (48.). Auch vor dem 0:2 durch Fassnacht (87.) fehlte Lomb das geeignete Timing. Aber warum sollte der Ersatzmann des noch wochenlang verletzten Lukas Hradecky cool bleiben, wenn auch die bewährten Spieler es nicht mehr sind? An die Stelle des geradlinigen Flügelspiels und der schnellen Kombinationen aus dem ballsicheren Zentrum - im Herbst monatelang Leverkusens Vorzüge - sind Aktionismus und Solistentum getreten. Am Donnerstagabend entstand dadurch wildes Durcheinander. Die 15 Millionen Euro schwere Einkaufsoffensive im Winter hat zwar die angekratzten personellen Reserven gestärkt, den Trend zur Konfusion aber eher verschärft.

Im Gegensatz zu seinem Chef Carro ist Trainer Bosz jetzt von den maximalen Ansprüchen abgerückt. "Es passt momentan nicht, von der Champions League zu reden", sagte er. Er drückte damit in Worten aus, was die Tabelle durch den Stand der Punkte verheißt: Der Westen fällt in dieser Saison im nationalen und internationalen Vergleich zurück. Im Laufe der vergangenen zehn Jahre waren mit einer Ausnahme (2017) immer wenigstens zwei Klubs von Rhein und Ruhr unter den ersten vier des Jahresabschlusses zu finden. Derzeit sieht es aus, als ginge die Ära des Westens vorbei. Schalke fällt womöglich langfristig aus der Wertung, in Mönchengladbach dürfte Trainer Marco Rose die aktuellen Ertragserwartungen ähnlich skeptisch bewerten wie der Kollege Bosz in Leverkusen.

Lediglich Borussia Dortmund, wo Klubchef Hans-Joachim Watzke am Freitag erklärte, sich wegen der (Corona)-Krise derzeit keinen eigenen Abschied im Jahr 2022 vorstellen zu können, hält noch strikt an dem alten Mindestziel Königsklasse fest. Falls das doch nicht klappen sollte: Es ist keine Schande, in der Europa League zu spielen. Kein deutscher Klub muss sich ihr durch Flucht entziehen.

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