Die Schulgruppe, die jetzt vor dem abgegriffenen Holzstück im ersten Stock des Canadian Museum of History stehen bleibt, sieht ihre Lehrerin fragend an. "Canada needs a flag NOW!", steht auf dem langen Brett, das 1964 auf einem Auto montiert durch Ontario fuhr. Sein Besitzer unterstützte damals diejenigen im Parlament, die forderten, die frühere britische Kolonie solle endlich mit einer eigenen Flagge ihre Eigenständigkeit und Unabhängigkeit zeigen. "Was haben die Leute ohne Flagge gemacht?", fragt ein Schüler. Die Lehrerin lächelt ihn an: "Die Leute wollten eine Flagge, weil sie stolz waren auf das, was sie erreicht hatten, und das wollten sie auch zeigen. Wer von euch hat etwas mit dem Ahornblatt zum Anziehen im Schrank?" Fast alle Finger schnellen jetzt nach oben.
50 Jahre nach seiner Einführung erlebt das Banner mit dem Ahornblatt derzeit nicht nur eine Sonderausstellung in der Hauptstadt, sondern auch eine Renaissance auf Kanadas Straßen. Die Frauenfußball-WM ist im Land, sie ist das erste weltweit ausgestrahlte Sportereignis aus Kanada, das quer über das ganze Land in sechs Spielorten verteilt ist und durch die vergrößerte Teilnehmerzahl noch mehr TV-Zuschauer anzieht. Mehr als 53 000 Zuschauer feuerten in Edmonton die Gastgeberinnen beim 1:0 im Eröffnungsspiel gegen China an - Zuschauerrekord im kanadischen Fußball.
Doch nach der ersten Turnierwoche hat eine heftige Debatte begonnen, ob Kanada mit sich und seiner Gastgeberrolle wirklich zufrieden sein kann. Kommentator John Doyle etwa vom Hauptstadtblatt The Globe and Mail lobt zwar die hohen TV-Einschaltquoten in Kanada und der Welt, argwöhnt aber, ob es klug war, sich auf den Fußball-Weltverband Fifa und seine Vorstellungen vom Turnier einzulassen.
Im offiziellen Programmheft, dem einzigen Ort in Kanada, an dem der strauchelnde Joseph Blatter bei dieser WM überhaupt vertreten ist, beschwört der Fifa-Präsident als Freund der Superlative noch das Wachstum im Frauenfußball. Schließlich nehmen nun erstmals 24 statt 16 Mannschaften teil, was zu mehr Spielen, mehr Besuchern und noch mehr TV-Zuschauern weltweit führt. Auch darf sich der Titelgewinner diesmal über eine Verdoppelung der Siegprämie auf zwei Millionen US-Dollar freuen. Allerdings haben Blatter und die Fifa-Exekutive mit ihrem Bestechungsskandal nun selbst dafür gesorgt, dass die weltweite Aufmerksamkeit im Fußball von den Frauen weg- und wieder hin zu den Männern gelenkt ist. "Vielleicht", sagt daher Doyle, "ist es einfach mal Zeit für einen kleinen Realitäts-Check." Nicht im Sinne der Zahlen, die sich sicher auch mit dieser WM wieder steigern werden, sondern im Sinne der Erwartungshaltung. Vielleicht geht es ja im Frauenfußball nicht länger nur um Zuwächse, sondern um die verbesserte Professionalität des Sports.
Alle vier Jahre aufs Neue muss der Frauenfußball sich wieder nach seinem Sinn und Unsinn fragen lassen. Wer will das sehen? Wie gut ist die Qualität? Und noch immer: Ist das wirklich Fußball? Auf alle drei Fragen gibt diese WM ein Antwort. 2011 in Deutschland gingen 700 000 der eine Million Stadionkarten in den freien Verkauf und auch zumeist weg - die Auslastung war ein Traum für die Organisatoren. Auch in Kanada sind schon mehr als eine Million Eintrittskarten verkauft. Für das Ziel, insgesamt eineinhalb Millionen Tickets abzusetzen, brauche Kanada aber "Kanada und die USA in den K.o.-Spielen", sagt Victor Montagliani, der Chef des Organisationskomitees.
Montagliani setzt auf das bevorstehende Ende des Stanley-Cup-Finales im Eishockey und der NBA-Finals im Basketball. Sobald diese beiden Meisterschafts-Serien entschieden sind, haben die zwei größten Sportattraktionen Nordamerikas Pause - auch im Nachbarland USA fahren die Fernsehsender ihre WM-Berichterstattung dann noch einmal hoch. Schließlich will das Land des Olympiasiegers erleben, ob das Team um die neue Trainerin Jill Ellis und die ungekrönte Abby Wambach seine 16-jährige Durststrecke ohne WM-Titel endlich beendet.
Schwieriger, weil subjektiver, ist die Frage nach der Qualität zu beantworten. Das 10:0 der deutschen Fußballerinnen zum Start des Turniers hat - ähnlich wie 2007, als es gegen Argentinien ein 11:0 gab - belegt, dass die Niveauunterschiede in der erweiterten Weltspitze noch enorm sind. Die Art und Weise aber, wie viele der Topteams, allen voran die deutsche Mannschaft, ihr technisches, taktisches und körperliches Können in Kanada ausspielen, fällt auf: Selten hat man in einer Frauen-WM-Vorrunde schon so viel überlegte Angriffszüge wie etwa von Deutschland oder Nigeria gesehen, so viele exquisite Standards wie den Freistoß der Norwegerin Maren Mjelde in den Torwinkel zum Ausgleich gegen die Deutschen oder den siegbringenden Elfmeter von Kanadas Christine Sinclar gegen China.
Das 10:0 blieb bislang auch ein einzelner Ausreißer, den Stürmerin Alexandra Popp auch der Leidensfähigkeit ihrer Elf zuschreibt: "Die Spiele hier sind für jeden schwer, vor allem angesichts der Hitze auf den Plätzen." Womit diese Frauenfußball-WM bei ihrem eigentlichen Thema angelangt ist. Denn die undurchsichtige Entscheidung der Fifa, erstmals ein Turnier auf Kunstrasen auszutragen, wird auch in Kanada als fragwürdig angesehen.
Schürfverletzungen hat es zwar bislang noch keine gegeben, dazu ist der verwendete Belag zu neu und zu gut. Dass die Fläche sich durch das schwarze Granulat, auf dem der Ball besser laufen soll, extrem aufheizt, war allerdings abzusehen. Schon beim Eröffnungsspiel in Edmonton, einem im Vergleich noch kühlen Spielort, wurden bei 23 Grad Lufttemperatur 49 Grad Celsius auf dem Kunstrasen gemessen. "Unter solchen Bedingungen 90 Minuten Vollgas und dazu ein ganzes Turnier zu spielen, ist Wahnsinn", meinte Wambach, "ich weiß nicht, was da mit uns ausprobiert werden soll."
Kanada jedenfalls will jetzt im Fußball neu denken. Anders als früher, wo oft Männer als eine Art Entwicklungshelfer in den Frauenfußball gewechselt sind, könnte es hier bald andersherum passieren. Kanadas Verband ist so begeistert von Frauen-Trainer John Herdman, dass es Überlegungen gibt, ihm eine leitende Position für den gesamten Fußball zu geben - der Männer wie der Frauen. "John verändert unseren Blick auf das Ganze", sagt Sinclair, "wir nehmen uns selbst mehr ernst." Wenn das kein Anfang ist.