Formel 1:Des Sieges beraubt

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Ausgerechnet eine Reifen-Verwechslung beim Boxenstopp bringt Hamilton-Ersatz Russell um seinen ersten großen Formel-1-Erfolg. (Foto: imago images/Motorsport Images)

Eine schier unglaubliche Panne von Mercedes verhindert den Überraschungssieg von Lewis Hamiltons Ersatzfahrer George Russell. Am Ende gewinnt der Mexikaner Sergio Perez sein erstes Formel-1-Rennen.

Von Philipp Schneider, Sakhir/München

Manchmal steckt ja die ganze Welt in einem winzigen Detail. Bei George Russell, 22, geboren in King's Lynn, der nördlichsten Ansiedlung am britischen Fluss Great Ouse, waren es die zu kleinen Schuhe, die er an seinen Rennfahrerfüßen trug, als ihm ausgerechnet das für seine Perfektion gerühmte Team von Mercedes wohl um seinen ersten Rennsieg brachte.

Als er am Sonntag das Auto eines siebenmaligen Weltmeisters chauffierte, drückten und schmerzten deshalb seine Füße. Aber die zu kleinen Schuhe waren alternativlos, weil das Cockpit um ihn herum konstruiert worden war anhand der Maße des zehn Zentimeter kleineren Lewis Hamilton. Und Russell wollte ja sicher nicht das Pedal verfehlen, versehentlich bremsen, statt Gas zu geben mit seinen großen Tretern.

Russell jedenfalls lag am Sonntag nach zwei Dritteln der Renndistanz in Führung vor dem Finnen Valtteri Bottas, als ihn nach einem Crash von Jack Aitken das Team Mercedes in einer Safety-Car-Phase zum Reifenwechsel rief. Und was dann geschah, das war geradezu unglaublich: Russell bekam zumindest in Teilen einen Satz Reifen angeschraubt, der für Bottas vorgesehen war. Russell musste abermals zum Pneuwechsel. Und als das Rennen wieder gestartet wurde, da führte Sergio Perez vor Esteban Ocon und Lance Stroll.

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Und als die drei dann auch noch in dieser Reihenfolge über die Ziellinie fuhren, da blickte die Formel 1 auf ein nahezu absurdes Rennen. Plötzlich stand Sergio Perez erstmals ganz oben auf dem Podium. In seinem 190. Grand Prix. Er war nun der erste Formel-1-Sieger aus Mexiko seit Pedro Rodríguez' Sause 1970 in Spa. Ausgerechnet Perez, der in der kommenden Saison für Sebastian Vettel bei Aston Martin weichen wird. "Ich hoffe, ich träume nicht", sagte Perez. Und weil die Formel 1 keinen Platz mehr für ihn hat, war er in diesem Augenblick die zweite tragische Figur.

Neben Russell, der Sensation, bei der sich Teamchef Toto Wolff noch im Funk entschuldigte. "Das war eines der kolossalsten Versagen, die wir je hatten", sagte er. "George, es tut uns so leid, du warst großartig."

Vor einigen Wochen erst hatte es für Russell so ausgesehen, als habe er nicht einmal bei Williams eine Zukunft. Jetzt darf Valtteri Bottas froh sein, dass er schon vor Wochen seinen Vertrag bei Mercedes verlängerte, und er deshalb zumindest im nächsten Jahr noch immer im Silberpfeil sitzen wird.

George Russell, vormals 36 Rennen, null Siege, null Pole Positions, null WM-Punkte, hatte einfach nur das Auto gewechselt und das hätte gereicht für einen Sieg. Haarscharf.

Mensch oder Auto, Gehirn oder Getriebe, Fingerspitzen oder Zylinder? Wer hat welchen Anteil am Erfolg in der Formel 1, das war plötzlich die überwölbende Frage über dem vorletzten Rennen der Saison. Es war eine vortreffliche Frage, vielleicht sogar die älteste im Motorsport überhaupt. Und ergeben hatte sie sich nur wegen eines Unglücks des wohl besten Fahrers im Feld: Lewis Hamilton hatte sich in dieser Woche mit dem Coronavirus infiziert und musste passen. Ein Ersatz musste her. Doch Mercedes entschied sich nicht für den etatmäßigen Ersatzfahrer. Sondern für ein weit komplizierteres Prozedere, in dem sie das Talent Russell ausnahmsweise befreiten aus seinem Schlechte-Laune-Cockpit bei Williams, um ihm erstmals in seiner noch jungen Karriere ordentliches Material zu spendieren. Sie konnten es vorher nicht wissen, höchstens ahnen: Sie entfesselten ein Biest.

Der rasende Russel jedenfalls war in der Qualifikation auf Anhieb nur 26 Tausendstelsekunden langsamer als der erfahrene Valtteri Bottas und auch im Rennen fehlerfrei.

Bottas startete vor Russell, dahinter parkten Max Verstappen im Red Bull und Charles Leclerc im Ferrari. Die zwei Silberpfeile hatten die mittelharten Reifenmischungen montiert, alle andere Fahrer aus den ersten Zehn die schnelleren weichen Pneus.

Wie ein schwarzer Pfeil startete Russell, zog gleich vorbei an seinem Lebensabschnitts-Teamkollegen Bottas, und ließ ihm dann in der ersten Kurve geschickt keinen Platz zum Konter. Nur wenig später, drei Kurven weiter, schepperte es zwischen den direkten Verfolgern. Leclerc bremste deutlich zu spät, sein Ferrari traf den Racing Point von Sergio Perez in die Seite, für Leclerc war das Rennen vorbei. Genau wie für Verstappen, der den zwei Wagen ausweichen musste, durchs Kiesbett rumpelte, dann seinen Frontflügel in die Streckenbegrenzung rammte - und allerlei Unflätiges im Funk schimpfte, das die Regie mit Piepstönen überspielte. Die Kommissare bestraften Leclerc für die Irrfahrt: Beim Saisonabschlussrennen in Abu Dhabi wird er um drei Startplätze strafversetzt.

Das Safety Car rückte aus, nach sechs Runden wurde das Rennen wieder freigegeben. Carlos Sainz im McLaren, als Achter gestartet, war nun Dritter hinter den Silberpfeilen, hinter ihm rollte Daniel Ricciardo im Renault. Und während Russell fehlerfrei an der Spitze weiter kreiste, ließ sich Bottas nach dem Wiederstart für einen Augenblick von Sainz überholen.

Nach 29 von 87 Runden hielten die ersten Autos aus der Spitzengruppe für neue Reifen. Doch während die zwei Silberpfeile dem Feld enteilten, stellte sich weiterhin die Frage: Würde Mercedes Russell per Stallorder einbremsen, um Bottas dabei zu helfen, dass er sein Gesicht würde wahren können?

Zunächst einmal setzte sich der Rookie weiter ab, als habe er zeitlebens mit zu kleinen Schuhen Autos von Rekordweltmeistern gelenkt. Konstant drei Sekunden kreiste er vor Bottas.

Seine Reifen würden sich allmählich auflösen, klagte Russell irgendwann über Funk. Aber er hielt die Spur. Er und Bottas blieben lange auf der Strecke, genau wie Lance Stroll im Racing Point und Esteban Ocon im Renault. Erst in der 45. Runde fuhr er an die Box, Bottas kam zwei Umdrehungen später in die Werkstatt. Und als er wieder auf die Strecke bog war er noch immer Zweiter. Schlimmer noch aus seiner Sicht: Er fiel weiter zurück, bis auf acht Sekunden zeitweise.

Möglicherweise hätte Russell trotz des Missgeschicks noch gewonnen. Wegen eines Plattens musste er aber ein weiteres Mal an die Box.

Und Perez, der den Sieg erbte, aber auf eine cockpitlose Zeit zusteuert? Er sei nun "etwas mehr im Frieden mit mir selbst", sagte er. "Es liegt nicht in meiner Hand, aber ich will weitermachen."

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