Final-Einzug der deutschen Volleyballerinnen:Sieg im dramatischen Wetthechtbaggern

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Grenzlose Freude bei den deutschen Volleyballerinnen nach dem Sieg im Halbfinal-Krimi. (Foto: dpa)

Die deutschen Volleyballerinnen leisten sich zu Beginn des EM-Halbfinales viele kleine Fehler, und plötzlich sind gegen Belgien die ersten beiden Sätze weg. Doch das Team von Bundestrainer Giovanni Guidetti dreht die Partie, nicht elegant, aber mit bedingungsloser Zuversicht - und erreicht doch noch das Finale.

Von Thomas Hahn, Berlin

Dann stieg der Ball noch einmal knapp über die Netzkante, von den Fingern der Zuspielerin Kathleen Weiß, genau vor die Hand der Außenangreiferin Heike Beier. Und mit einer Kraft, die man sich gerne für letzte Schläge aufbewahrt, schmetterte Heike Beier das Spielgerät ins Feld der Belgierinnen. Drüben schlug es ein zum letzten Punkt, der den deutschen Volleyballerinnen noch fehlte, und schon erfüllte ein solcher Jubellärm die volle Max-Schmeling-Halle, dass das Gemäuer wackelte.

Dieser Schmetterhieb setzte den Schlusspunkt unter ein bewegendes EM-Halbfinale in Berlin, das die Deutschen im Grunde schon verloren hatten, nachdem sie sich fehlerhaft und zagend einen 0:2-Satzrückstand eingehandelt hatten. Es würde den Belgierinnen sicher nicht gerecht, wenn man die Deutschen als die verdienten Siegerinnen ausriefe. Die Deutschen waren nicht wirklich gut gewesen, aber sie zeigten Nehmerqualitäten und Moral bei ihrem 18:25, 20:25, 25:21, 25:21, 15:11, das sie für das Finale am Samstagabend in Berlin gegen Russland (20 Uhr, Sport1) qualifiziert hat.

Es ist eine ansteckende Kraft ausgegangen von dieser Mannschaft in den ersten Tagen dieser EM, ein Geist, den viele sich zum Beispiel nehmen können, die etwas übers Gewinnen lernen wollen. Bedingungslose Zuversicht schien Teil ihres Selbstverständnisses geworden zu sein. Die Zweifel, mit denen frühere deutsche Volleyball-Generationen sich immer wieder das Leben schwer machten, hatten sie verramscht. Ihre Seelen waren frei, die Frauen hatten keine Angst vor Fehlern, und das lärmende Heimpublikum bestärkte sie zusätzlich in ihrem Mut zum Risiko.

Es wirkte in den ersten Spielen so, als fließe die elektrisierende Atmosphäre in der Arena von Halle/Westfalen in sie rein und lade sie mit zusätzlicher Kraft auf. Aber diese Kraft ist nicht unendlich. Das hat der Freitagabend in der bebenden Max-Schmeling-Halle gezeigt. Mittelblockerin Corina Ssuschke-Voigt sagte ins Glück des knappen Sieges hinein: "Wir wollten unbedingt gewinnen, und das ging in die Hose, weil wir zu viel wollten."

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Von Saskia Aleythe

Die deutschen Volleyballerinnen haben nicht die eleganteste Spielanlage der Welt. Sie sind Kämpferinnen, und Kämpferinnen sind verletzlich, wenn ihr Einsatz abprallt an den Fähigkeiten eines Widersachers, dem irgendwie alles zu gelingen scheint. Belgien ist ein komplizierter Gegner, die Deutschen haben in diesem Jahr schon 3:0 gegen ihn gewonnen, aber auch schon 0:3 gegen ihn verloren. Belgien ist ein gut geordnetes Team, das nicht zu großer Aufregung neigt und an guten Tagen schwer zu überlisten ist. Solchen Gegnern muss man früh die Grenzen aufzeigen, sonst steigern sie sich in ein Selbstbewusstsein hinein, das sie mit jedem gelungenen Zug stärker macht.

Die Voraussetzungen waren gut für die deutschen Frauen. Sie hatten ein gutes Turnier gespielt bis zu diesem Viertelfinale. Die Max-Schmeling-Halle war voll, die Leute waren bereit, der Mannschaft die Anfeuerung zu bieten, die sie brauchte. Schon beim Einspielen zum Halbfinale lärmten die Tribünen, tosender Applaus empfing die Spielerinnen. Es lag viel Vorfreude auf den nächsten deutschen Erfolg in der Luft. Vielleicht sogar zuviel?

Jedenfalls passierte den Deutschen genau das, was nicht hätte passieren dürfen. Leichte Fehler, die den Belgierinnen früh zeigten: Hier geht was. Die Deutschen gerieten unter Druck, und sie konnten sich davon nicht befreien, weil die Belgierinnen exzellent verteidigten und auch aus komplizierten Situationen Punkte erzielten. Belgien führte 4:1, 11:8, 17:13, 21:16. Guidetti nahm Auszeiten, er wechselte Zuspielerin Weiß gegen Denise Hanke ein. Es half nichts. Der erste Satz war weg.

Auch in den zweiten Satz fanden die Deutschen schwer hinein, aber bald schienen sie die Lage im Griff zu haben. Sie führten zwischendurch 19:15, aber irgendwie strahlte die Mannschaft selbst in dieser Phase nicht die Sicherheit aus, die sie in ihren vorigen Spielen ausgestrahlt hatte. Bei 19:18 bemühten die Deutschen wie schon im ersten Satz vergeblich den Videobeweis. Der Punkt blieb bei Belgien, und dann funktionierte fast gar nichts mehr - außer die Angriffe der Belgierinnen. Plötzlich war auch der zweite Satz weg.

Aber die deutschen Volleyballerinnen sind ja Kämpferinnen. Sie stecken nicht auf, obwohl die Belgierinnen ihren sachlichen Stil fortführten und wie das stabilere Team wirkten. Bald durchzuckte Kapitän Margareta Kozuch ein Jubel-Anfall, nachdem die Außenangreiferin den Ball endlich wie gewohnt im belgischen Feld versenkt hatte. Kurz darauf stand es 1:2 nach Sätzen. Hoffnung glimmte. Und irgendwann schaukelte sich dieses Halbfinale zum Spektakel hoch.

Mitte des vierten Satzes wirkte es schon so, als hätten die Deutschen endgültig den Faden verloren, 9:14 und 13:16 lagen sie zurück. Aber sie ließen sich nicht abschütteln, und als Corina Ssuschke-Voigt ein Aufschlag-Ass tief ins Feld setzte, und die Belgierinnen ihrerseits fälschlicherweise den Videobeweis bemühten, war klar, dass die Frauen auf der anderen Seite sich ihrer Sache doch nicht ganz sicher waren. Einen Angriff nach dem anderen tauchte die deutsche Verteidigung unter Leitung der erstaunlichen Libera Lenka Dürr aus dem Feld, die Ballwechsel glichen zwischenzeitlich einem Wetthechtbaggern. Und dann retteten sich die Deutschen in den fünften Satz, zum Sieg, ins Finale.

Heike Beier lächelte und sagte: "Bis das der letzte Punkt nicht gespielt ist, ist das Spiel nicht zu Ende." Das Wissen darum, dass ihre Moral funktioniert, könnte den Deutschen helfen im Finale gegen Weltmeister Russland. Wobei die schon ziemlich gut drauf sind, wie sie in ihrem Halbfinale gegen den EM-Titelverteidiger zeigten. In den vergangenen beiden Jahren waren die Russinnen nicht so dominant wie gewohnt. Sie wurden nur EM-Sechste 2011, sie verloren im Viertelfinale der Olympischen Spiele in London. Juri Maritschew, eigentlich ein Männer-Coach, hat das Team wiederbelebt, gegen Serbien gewann es mit Witz und undurchdringlichem Blockspiel 25:23, 25:19, 25:12.

Corina Ssuschke-Voigt ist trotzdem irgendwie zuversichtlich gegen die kalte Macht des Weltmeisters. "Wir sind eine richtige Mannschaft", sagte sie, "die Russinnen sind ein Team aus Einzelspielerinnen. Wenn die scheiße spielen, geht jede in ihre Ecke. Wenn wir scheiße spielen, gehen wir zusammen." Wer es nicht glaubte, konnte sich ja nochmal das Halbfinale gegen Belgien auf Video anschauen.

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