FC Liverpool:Ein Jahr später

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Einer der Protagonisten des Liverpooler Triumphs: Torwart Alisson Becker. (Foto: Mike Egerton/dpa)

Torwart Alisson Becker vereitelt Tottenhams Chancen, und Mo Salah weint diesmal nicht: Für Liverpool schließt sich der Kreis zum verlorenen Finale in der Vorsaison.

Von Javier Cáceres, Madrid

Weit nach Mitternacht, als die Liverpool-Fans längst das Stadion geräumt hatten und die Spurs-Fans erst recht, weil sie nicht mehr zur Siegerehrung bleiben wollten oder konnten oder beides, kam Allison Becker mit dem Pokal durch die Mixed Zone. Und natürlich hatte es etwas Symbolisches, dass ausgerechnet er, der brasilianische Torwart der Reds, die Champions-League-Trophäe zum roten Bus trug. Weil er bei diesem 2:0 gegen Tottenham Hotspur seine Elf gleich mehrmals gerettet hatte - und weil er damit auch einen Bogen zum Finale von Kiew schlug.

Kiew 2018, man erinnert sich: Wie Mohamed Salah nach einer guten halben Stunde unter Tränen vom Platz musste, weil er von Real Madrids Sergio Ramos übel verletzt worden war; vor allem aber, wie Loris Karius, Liverpools damaliger deutscher Torwart, womöglich groggy durch einen Ellenbogenschlag von Ramos, sich die Bälle mehr oder weniger selbst ins Tor schaufelte. Alisson hingegen? Ein Keeper, der die schwierigsten Dinge einfach aussehen lässt, wie Trainer Jürgen Klopp später sagen sollte; aus Dankbarkeit für die vereitelten Chancen der Schlussminuten habe er "ihm fast den Rücken gebrochen", als er ihn gedrückt habe, bekannte Klopp.

Und es schlossen sich weitere Kreise: nicht nur für Salah, der in der zweiten Minute den schnellsten Elfmeter der Geschichte der Champions League zur Führung verwandelte. Sondern auch für den Belgier Divock Origi, der das späte 2:0 erzielte. Derselbe Origi übrigens, der im Sommer des vergangenen Jahres mit dem VfL Wolfsburg als Leihspieler des FC Liverpool noch gegen den Abstieg spielte, unter anderem in der Relegation der deutschen Bundesliga. Und nun hatten sie die Nacht ihres Lebens, die für viele nicht zu Ende war, als sie am Morgen danach den Flieger zum John-Lennon-Airport bestiegen.

Es war, um das vorwegzunehmen, kein großartiges Endspiel gewesen, womöglich sogar das schlechteste seit dem Endspiel von 2003 zwischen Juventus und AC Milan, das die Mailänder unter Carlo Ancelotti nach einem 0:0 im Elfmeterschießen gegen die Vecchia Signora gewannen. Im Grunde war dieses Finale fast unwürdig für eine Champions-League-Saison, die so viele sagenhafte Momente bereitgehalten hatte, erst recht im Halbfinale: Liverpools Aufholjagd gegen Barcelona, Tottenhams Comeback nach dem 0:2-Rückstand in Amsterdam. Aber man musste später nur die Aufnahmen einer ergreifenden Umarmung sehen, die sich am Spielfeldrand abspielte, um zu wissen, wie egal das alles war: Jordan Henderson, der Kapitän der Reds, hatte seinen Vater entdeckt, fiel ihm um den Hals und weinte sein Glück auf dessen linker Schulter aus. Oder besser: ihr gemeinsames Glück. Als Vater Henderson seinen Kampf gegen den Rachenkrebs führte, hatte er den Sohn gebeten, ihn nicht zu besuchen, sondern sich auf seine Rolle als Leader der Reds zu konzentrieren. Und eine Trophäe zu holen - er werde schon dabei sein, wenn er sie überreicht bekomme.

Und so war es dann auch. "Das ist einfach ein geiler Moment. Darauf haben wir ein Jahr hingearbeitet", sagte Joël Matip aus Bochum, der neben dem niederländischen Verteidiger-Titan Virgil van Dijk so gut wie alles weggeschafft hatte, was nach Gefahr roch. Und vor allem Tottenhams gerade erst genesenen Kapitän und Mittelstürmer Harry Kane komplett annullierte.

"Wir werden nicht zurückschauen und denken, dass es ein träges Spiel war, sondern dass wir Champions wurden", sagte der gebürtige Liverpooler Trent Alexander-Arnold, der im Halbfinale jene genialische Ecke gegen Barcelona getreten hatte, die Origi zum 4:0 verwertet hatte. Derselbe Origi, der Liverpool in der Schlussphase der Meisterschaft mit einem späten Tor gegen Everton im englischen Titelkampf gehalten hatte. Wenig wusste man bisher über diesen Spieler - weder dass er nicht nur Hiphop, sondern auch Jazz hörte, Psychologiebücher verschlang, Klavierspielen lernte und wenn er mal in New York war, nicht Discotheken aufsuchte, sondern das Guggenheim-Museum. Nach diesem unfassbaren 4:0 gegen Barcelona hatte Origi nicht nur gesagt, dass er versuche, "mein Licht zum Scheinen zu bringen", sondern sich auch an die Zeit in Wolfsburg erinnert: "In einer Fußballkarriere geht alles so schnell, ich muss es doch nur genießen."

Am Samstag sagte er, was Fußballer halt so sagen nach einem Triumph, den man nicht wirklich zu fassen bekommt, weshalb Klopp übrigens tatsächlich in der Pressekonferenz mit den Fäusten in der Luft nach irgendetwas Imaginärem packte. "Es ist unglaublich", sagte also Origi, der Tottenhams französischen Weltmeistertorwart Hugo Lloris mit einem kühlen Schuss ins lange Eck bezwungen hatte. Es war sein dritter Torschuss im laufenden Wettbewerb. Und sein drittes Tor.

Doch es gab auch noch andere stille Helden beim FC Liverpool, etwa Sadio Mané, der als einziger aus dem gefürchteten Sturmtrio, zu dem neben Salah auch der frühere Hoffenheimer Roberto Firmino zählt, Normalform erreichte. Er arbeitete, bewies Zähigkeit, ließ seine Technik aufscheinen, holte den Elfmeter heraus, als er einen Pass spielen wollte: Tottenhams Sissoko fuhr den Arm aus, als wolle er den Verkehr im Strafraum regulieren.

Vor dem Finale hatte Mané seinen deutschen Berater Björn Bezemer getroffen und ihm einen Satz gesagt, der gut erklärt, warum Torwart Allison und ganz Liverpool später den Pokal davon trugen: "Wir wissen genau, wie Tottenham sich gerade fühlt." So wie Liverpool vor einem Jahr in Kiew, sollte das heißen. Mehr als angespannt, sehr nervös. Und das gab Liverpool die Ruhe, wider die eigene Natur zu spielen, den Gegner bei seiner wachsenden Verzweiflung zu beobachten. Am Ende stand der sechste Sieg Liverpools im wichtigsten Klubwettbewerb Europas und damit der Welt, einzig der AC Milan (sieben) und Real Madrid (13) haben mehr. Und Trainer Klopp sagte: "Das war nur der Anfang."

© SZ vom 03.06.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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