FC Bayern München:FC Bayern: "Wir haben die Seuche am Stiefel"

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Der Ausfall von Jérôme Boateng trifft den Meister, weil die Statik des Spiels in Gefahr gerät. Ihm bleibt nur noch eine Rumpf-Innenverteidigung.

Von Benedikt Warmbrunn, Hamburg

Manchmal passt die ganze verhängnisvolle Wahrheit tatsächlich auch in die 140 Zeichen eines Tweets. Am Samstagnachmittag um 16.25 Uhr veröffentlicht der FC Bayern eine dieser kurzen, großen Nachrichten auf seinem Twitter-Kanal, sie bestätigt nur, was sich in der Nacht zuvor angedeutet hatte, und doch verändert sie alles. Alle Hoffnungen, alle Ziele, alle Träume, sie sind jetzt eingedampft auf 122 Zeichen, schon der Einstieg sagt alles: "Bitter für FCB", schreibt der FCB, es geht um Jérôme Boateng, das Bittere bleibt im Ungefähren, "Muskelverletzung im Adduktorenbereich", schreibt der FCB noch, und: "fällt länger aus", doch gerade weil alles im Ungefähren bleibt, wird die Nachricht so groß.

Boateng fällt aus, das ist die Meldung. Dahinter steckt jedoch die verhängnisvolle Wahrheit, dass all die Hoffnungen, all die Ziele, all die Träume des FC Bayern zum Start in die Rückrunde nicht empfindlicher hätten getroffen werden können. Wenig später verbreitete sich - unbestätigt - die Meldung, dass es sich um einen Muskelbündelriss handele, übliche Pause: knapp zehn Wochen. Zehn Wochen, in denen viele entscheidende Spiele anstehen; sicher fehlen wird Boateng zum Beispiel im Champions-League-Achtelfinale gegen Juventus Turin Ende Februar und Anfang März.

Ohne Jérôme Boateng wird es nicht mehr dasselbe Spiel sein

Am Freitagabend, nach dem mühsamen und bald nebensächlichen 2:1 beim Hamburger SV bemühten sich Boatengs Mitspieler noch um Gelassenheit. Ja, Boateng hatte nach einem Zweikampf mit Dennis Diekmeier sofort die Zeigefinger aneinander vorbeikreisen lassen, das international gültige SOS der Fußballer-Zeichensprache: Auswechseln, sofort! Aber im Kabinengang wollten die anderen bloß keine Panik aufkommen lassen, vielleicht war es ja doch nicht so schlimm, zumal der Innenverteidiger ja einigermaßen sicher zum Bus gelaufen war. Allein Pep Guardiola, sonst oft der Meister des Nebulösen, sprach aus, was Boatengs Ausfall bedeuten würde. Der Trainer sagte: "Ohne Jérôme haben wir ein Problem."

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Xabi Alonso und Philipp Lahm sind in Guardiolas Werk die Architekten, Spieler wie Arjen Robben, Douglas Costa oder Thomas Müller zuständig für die Vergoldung der Außenfassade. Aber dafür, dass die Statik stimmt, ist keiner so wichtig wie Boateng. Sein Gefühl für den Raum, seine vorausahnende Spiel-Intelligenz und seine Schnelligkeit sind unabdingbar dafür, dass Boateng eine Abwehrreihe anleiten kann, die so hoch steht, dass der Gegner weit in die eigene Hälfte gedrückt wird. Zudem ist er einer der zentralen Aufbauspieler, am 5:1 im Herbst gegen Verfolger Dortmund war der 27-Jährige mit zwei weiten Zuspielen wesentlich beteiligt; gegen Hamburg stellte er sich oft zunächst bewusst tief an den eigenen Strafraum, um dann mit einem Pass mehrere Gegenspieler zu überwinden. "Wenn wir Jérôme für längere Zeit verlieren, werden wir trotzdem mit elf Mann spielen", sagte Guardiola zwar am Freitag, aber er weiß genau, dass das nicht mehr dasselbe Spiel sein wird, gerade nach dem vergangenen Jahr.

2015 fehlten im Frühjahr wochenlang mehrere Spieler, die Mannschaft japste den Höhepunkten der Saison entgegen, dort angekommen, standen dann elf willensstarke Männer auf dem Platz, doch diesem Willen wollte der eine oder andere Körper nicht mehr folgen. Auch zum Jahresende fielen einige Spieler aus, gerade einmal 14 seien vor Weihnachten fit gewesen, erinnerte Müller am Freitag noch einmal. Damals schrieb der FCB, dass Franck Ribéry, Medhi Benatia und Juan Bernat aufgrund von Muskelverletzungen länger ausfallen - Bernat trainierte am Samstag wieder; wie lange Ribéry und Benatia noch länger ausfallen, ist unklar. "Wir haben da schon die Seuche am Stiefel", sagte Müller.

Boatengs Ausfall verlängert die Liste der Muskelverletzungen beim FC Bayern, aktuell stehen auf dieser noch Benatia, Ribéry und Mario Götze, bis zuletzt dazu Bernat, vor Weihnachten Costa und Robben. "Stimmt", sagte Kapitän Philipp Lahm zu dieser Häufung, "aber Erklärungen habe ich dafür auch nicht." Müller sagte: "Das ist auch schwer zu erklären, ob wir das was falsch machen." Bei Boateng war es wohl ein Trauma durch den Zweikampf mit Diekmeier; die andere Möglichkeit wäre, dass er übertrainiert war - was unwahrscheinlich ist, da zuletzt eine der lautesten Debatten die war, ob Guardiola zu wenig trainieren lässt. "Nein, nein", sagte der Trainer auch schnell; in seinem letzten halben Jahr in München will er alle Nebensächlichkeiten vermeiden. Was zählt, sind: Titel. Und auf dem Weg dorthin muss er nun um die Statik seines Werkes bangen.

Auch der Nationalmannschaft bleibt nur noch Mats Hummels als etablierter Innenverteidiger

Ohne Benatia und Boateng bleiben Guardiola in der Innenverteidigung noch Holger Badstuber und Javier Martínez, beide sind nach langen und komplizierten Verletzungen jedoch selbst eher Wackelkandidaten. Dass der Klub noch einen Innenverteidiger verpflichtet, ist unwahrscheinlich; ein gleichwertiger Ersatz wäre teuer und dürfte - wenn er von einem anderen Champions-League-Teilnehmer käme - ohnehin nur in Bundesliga und Pokal eingesetzt werden. In die entscheidenden Wochen geht Guardiola also wahrscheinlich mit einer Rumpf-Innenverteidigung.

Ähnlich folgenschwer ist Boatengs Ausfall nur für Bundestrainer Joachim Löw. Da auch der Schalker Benedikt Höwedes lange ausfällt, bleibt Löw zu Beginn des EM-Jahres nur Mats Hummels als etablierter Innenverteidiger. Die verhängnisvolle Wahrheit für den FC Bayern und die Nationalmannschaft lautet also, dass ausgerechnet die Position, auf der die Stärke der beiden Mannschaften als selbstverständlich gelten durfte, auf einmal zu einer möglichen Schwachstelle geworden ist.

© SZ vom 25.01.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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