Faszination Baseball:Jeder Schlag ein Treffer

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Rougned Odor (Texas Rangers), unten, gegen J.J. Hardy (Baltimore Orioles), oben, in Baltimore 2014. (Foto: AP)

"Dies war Amerikas erste Sportart, die jedermann spielen konnte": Die Regeln sind kompliziert, der Ball ist kaum zu sehen, und dennoch boomt dieses Spiel wie sonst keines.

Christian Wernicke

Der Frühling in Cincinnati beginnt nicht im März, und niemand in der Stadt glaubt, dass der Sommer erst im Juni einzieht. Wie überhaupt das eigentliche Leben am trägen Ohio River nur zwei Jahreszeiten kennt: Season und Off-Season. Letzteres ist der Winter, die karge Zeit von Mitte Oktober bis Anfang April, da der Himmel grau, das Leben leer und der riesige Great American Ball Park unten am Flussufer verlassen scheinen. Das drückt aufs Gemüt, weshalb Menschen wie Elmar Gruber jeden Tag bis zum Opening Day im Kalender sehnlichst ausstreichen.

Dann, am ersten Montag im April, macht sich der Rentner fein. Graue Hose mit akkurater Bügelfalte, das Hemd gebleicht, die rote Fliege am Kragen - perfekt. Auch Virginie, seine Frau, putzt sich heraus, legt den Goldschmuck an und setzt im Stadion wieder den Strohhut mit den Stars and Stripes über der Krempe auf. Es riecht nach Hotdogs und kühlem Bier. Zwei Uhr nachmittags, dies ist ihre Stunde. Der Moment, da Frühling und Sommer zugleich erblühen. Auf einen Schlag.

Und mit einem Schlag. Nicht mal zehn Minuten währt das Spiel gegen die Rivalen der Chicago Cubs, da hat Adam Dunn, der Star der Cincinnati Reds, die Grubers und all die anderen, mehr als 40000 Fans verzaubert. Klack! Das ist der wundersame Klang, wenn das harte, mit Garn umspannte Leder das Ahornholz des Schlägers trifft. Hoch, immer höher steigt der Ball in den Himmel, und selig schauen die Grubers zu, wie die Kugel erst über der Gegentribüne der Schwerkraft erliegt. Home Run! Cincinnati führt, und weil vor Dunn schon ein anderer Spieler der Roten es bis zum ersten Mal, der First Base, geschafft hatte, steht es nun gleich 2:0.

Die Magie liegt im Detail

Elmar Gruber strahlt. Baseball ist sein Leben. Oder jedenfalls das, was sein Leben bislang ausgemacht hat neben dem Job als Manager, dem Schrecken der Ardennenschlacht im Zweiten Weltkrieg gegen die Deutschen, dem Segen seiner Familie daheim in Cincinnati: ,,Vier Kinder, elf Enkel, 14 Urenkel'', zählt Gruber stolz auf, ,,und mit allen habe ich Ball gespielt.'' Zumindest mit den männlichen Nachfahren. Er selbst hat es nie weit gebracht in Amerikas ureigenstem Spiel. Aber ein Sohn schlug sich immerhin durch bis hinauf in die ,,Triple-A League'', gleichsam die zweite Baseball-Bundesliga. ,,Vom vielen Training sind meine Knie kaputt'', sagt Gruber und fasst sich ans linke Bein. Dabei lächelt er, als wollte er sagen: ,,Und schön war's doch.''

Seit 1932 treibt es Gruber ins Stadion, seit sechzig Jahren besitzt er eine Dauerkarte. ,,So circa 3000 Spiele habe ich gesehen, mindestens.'' Der alte Herr mit der feuerroten Reds-Kappe auf dem Kopf weiß sehr wohl, dass viele Nicht-Amerikaner nicht begreifen, was die Faszination dieses Spiels ausmacht. Deshalb versucht er sich als Missionar: ,,Du musst auf die Details achten.''

Etwa auf die Finesse, wie der Pitcher (Werfer) den Ball zur Home Base schleudert - mal knallhart geradeaus, dann mit Spin seitwärts oder auch als ,,Breaking Ball'', der plötzlich so perfide absinkt und den Batter (Schlagmann) des Gegners ins Leere prügeln lässt. ,,Oder schau hin, wie sich alles bewegt, sobald einer trifft!''

So wie jetzt, da der Batter der Cubs nur ein paar Meter weit ins Infield schlägt, ein Roter den Ball flink aufliest und zum Kameraden am ersten Mal wirft - so rasant, so präzise, dass der Mann auf First Base das runde Leder einen Sekundenbruchteil früher im Handschuh hält, ehe der Cub-Spieler sein Ziel erreicht. ,,Out!'', zum dritten Mal wurde ein Cub ausgezählt. Also Seitenwechsel. Nun kann wieder Cincinnati punkten.

Endlos lang, zudem unendlich kompliziert liest sich das Regelbuch des Spiels. Schlimmer noch, der faustgroße Ball ist kaum zu erkennen, wenn er mit knapp 160 Stundenkilometern Geschwindigkeit auf den Schläger zurast - erst recht nicht für Fernseh-Zuschauer. Doch Baseball lebt, besser denn je sogar. 75 Millionen Zuschauer strömten im vergangenen Jahr in die Stadien der Major League, die 30 Clubs - stramm organisierte Konzerne ohne Mitglieder - bescheren ihren Eigentümern stetige Wertzuwächse und ihren Spielern Rekordgehälter. Der viel gelobte Batter der New York Yankees, Alex Rodriguez, verdient in diesem Jahr die Rekordsumme von 27 Millionen Dollar garantiert, Adam Dunn, der Star der Cincinnati Reds bekommt 10,5 Millionen.

Warum dieses Spiel noch immer eine glänzende Zukunft hat, vermag die Vergangenheit erklären. Und nirgendwo lässt sich das besser erfahren als in Cincinnati, der Heimat des ältesten Profi-Clubs. Schon 1869 entlohnten die Reds ihren besten Spieler, einen gewissen Harry Wright, mit horrenden 2000 Dollar. Der verbuchte Gewinn des Vereins fiel kärglich aus: ,,Genau 1,39 Dollar'', weiß Greg Rhodes, der Kurator der Hall of Fame des Clubs. In seinem hochroten, fast ballrunden Kahlschädel hat Rhodes sämtliche Zahlen und Statistiken des Vereins gespeichert. Doch für den Erfolg des Spiels hat Rhodes eine simple Erklärung: ,,Dies war Amerikas erste Sportart, die jedermann spielen konnte.'' Davor gab's nur Boxen und Pferderennen, und Football und Basketball kamen danach, mit 70 Jahren Verspätung: ,,Das bedeutet zwei bis drei Generationen ohne Konkurrenz,'' sagt Rhodes. ,,Das prägt.''

Familientherapie im Garten

Baseball gab der jungen Nation eine Identität, versöhnte Nord und Süd kurz nach dem Bürgerkrieg wenigstens beim Spiel. Zudem verstanden sich die Funktionäre des neuen Sports früh auf das, was man heute Marketing nennt. Sie kultivierten die Mär, ein im Revolutionskrieg gegen die Briten dekorierter US-General namens Abner Doubleday habe 1839 binnen eines Tages die Grundregeln des Spiels auf einer Weide nahe des Örtchens Cooperstown im Staate New York verfasst. Diese Unabhängigkeitserklärung von Cricket schuf den Mythos vom ur-amerikanischen Spiel. Greg Rhodes widerspricht, wenn auch nur dezent: ,,Baseball hat viele Väter, und Cricket ist einer davon.''

Aber wen kümmert die Geburtslüge? ,,Thats's how they play since Doubleday,'' reimt Vince Murphy, um den ewigen Reiz des Spiels zu erklären. Es sei dasselbe Ritual, einst wie jetzt: Beinahe jeden Abend, wenn der 40-jährige Familienvater von seinem Job bei der Gemeinde nach Hause kommt, schnappt er sich den Fanghandschuh zum ,,Play Catch'' mit Braden, seinem neun Jahre alten Sohn: ,,Exakt so, wie einst mein Vater es mit mir getan hat.'' Die Generationen werfen im Vorgarten den Ball hin und her, reden über Schule und Freunde, Kummer und Träume. Baseball als Therapie, für beide.

Auch Intellektuelle beschreiben diesen Bund, nur abstrakter und gleich als nationale Familienbande. Der politische Publizist George Will nennt Baseball ,,das größte Konversationsthema, das Amerika je geschaffen hat.'' Die bruchlose Entwicklung des Spiels erlaube Vergleiche über Generationen hinweg, samt der Flut von Statistiken, die alles - jeden Wurf, jeden Schlag, jeden Fehlschlag - in Zahlenreihen vermesse. So bleiben Halbgötter wie Babe Ruth, Willie Mays oder Mickey Mantle lebendig, als Maßstab für die irdischen Millionäre auf den Green Fields von heute. Sicher, so spottet Will, Amerikas Schlagball sei ,,auch nur ein Spiel. Und der Grand Canyon ist nur ein Loch in Arizona. Nicht alle Löcher oder Spiele, sind eben gleich erschaffen.''

Vater und Sohn, Mutter und Tochter sitzen am Straßenrand. Cincinnati erwartet seine Parade, wie immer am Opening Day. Seit 88 Jahren. Familie Murphy ist seit elf Jahren dabei. Selbst wenn im Ohio-Tal der erste Saison- und Sommertag einmal mit Regen und Schnee verhagelt war, stellten sie ihre Klappstühle am Bordstein des Fountain Square auf. Heute friert niemand, Vince Murphys kurzes Reds-Shirt setzt seine mächtigen Unterarme der Sonne aus.

,,Baseball ist unser nationaler Zeitvertreib'', sagt Murphy und schiebt die verspiegelte Brille in die Stirn. Und Football? ,,Das ist Amerikas Leidenschaft.'' Sie lieben beides. Baseball währt den ganzen Sommer, 162 mal, fast jeden Tag ein Spiel, oft drei bis vier Stunden lang, ohne Stoppuhr. Die Fans bleiben meist gelassen. Sicher, die Wunde einer Niederlage würde sie schmerzen, aber die kann schon morgen wieder verheilen. Beim nächsten Spiel am nächsten lauen Abend. Football hingegen ist schnell vorbei, 16 Feldschlachten pro Saison, samt ,,Sudden Death'' in der Nachspielzeit. Dann ist alles vorbei und obendrein tiefster Winter.

Es wird laut, die Parade biegt ein. Und Vince Murphy mahnt seinen Sohn, aufzustehen und die Baseballkappe abzunehmen. Denn da marschiert die präsidentielle Ehrengarde der Air Force, stationiert im nahen Dayton. ,,Wir stehen zu unseren Truppen, na klar'', sagt Murphy, während gerade der Werbewagen einer Burgerkette vorbeirollt. Was er aber vom Krieg im Irak hält, will der Kommunalbeamte nicht in der Zeitung gedruckt sehen, nicht einmal in einer deutschen. Laut Umfragen haben zwei von drei Bürgern Ohios die Nase voll.

Nur, das rührt nicht an der Treue zu Fahne und Vaterland. Auch später im Stadion kommt erst die Nation, dann das Spiel: Die Hymne erklingt, Kadetten breiten ein riesiges Sternenbanner über dem Rasen aus. Pünktlich zur Schlusszeile, die das ,,Land der Freien und die Heimat der Tapferen'' preist, rasen vier F-16-Kampfjets über den Great American Ball Park. Baseball ist ein patriotisches Spiel, zumal seit dem 11. September. New York zelebrierte seine Trauerfeier damals nicht zufällig im Yankee-Stadium, einer Kathedrale des Baseballs. Die ganze Nation fühlte sich da der Bronx nah, trotz der neidvollen Abneigung, die viele Fans sonst pflegen gegenüber dem reichsten und erfolgreichsten Club der Liga.

Seit jenem Tag des Terrors gilt es auch in Cincinnati als oberste Pflicht, in der traditionellen Pause vom siebten der neun Spielabschnitte (Innings) nochmals nachzulegen: ,,God bless America'', heißt dann der Choral. Viele Amerikaner halten das für zu viel des Guten, wohl deshalb klingt der Gesang im Ball Park etwas schütter. Sekunden später beweisen die Fans mehr Inbrunst. Es ertönt die wahre Hymne ihres Spiels: ,,Take me out to the Ball Game!'' Ein Hauch von Karneval zieht durchs Stadion.

Warum auch nicht. Es läuft für die Reds, kurz vor Schluss führen sie 5:1. Also alles vorbei für Chicago? ,,It's never over 'til it's over'', zitiert der Sitznachbar eine banale Weisheit des Spiels. Ein müder Arm des roten Werfers, ein paar Fehler in der Feldverteidigung - ,,die Sache kann schnell kippen''. Europäer mögen Baseball betrachten und glauben, da geschehe nicht viel. Amerikaner hingegen geben ihr Bangen und Hoffen nie auf: ,,Es kann jeden Moment passieren.''

Ein Autogramm für 60 Dollar

Und tatsächlich, es bewegt sich noch was. Wenn auch nicht auf dem Spielfeld. ,,Pete is back'', steht plötzlich auf der Stadionleinwand, und vorne in den besseren Rängen erhebt sich träge ein kleiner Mann, dessen T-Shirt arg spannt überm Bauch. Er winkt, die Menge jubelt. Ja, das ist Pete Rose, die Erinnerung an die siebziger Jahre, als die Reds zweimal die World Series gewannen. So unbescheiden nennen sie ihren nationalen Meistertitel.

Rose ist ihr Held. ,,Charlie Hustle'', den Unermüdlichen, den Gehetzten haben sie ihn getauft - diesen Arbeitersohn aus Ohio, der es mit viel Training unter die ganz Großen schaffte. Harte, ehrliche Arbeit, das schätzen sie in Cincinnati mehr als Glanz und Glamour. Bis heute hält Rose den Liga-Rekord für die meisten gelungenen Hits, 4256 Mal schaffte er es bis zur Base oder zum Home Run. Seine Spezialität war, sich halsbrecherisch mit dem Kopf vorneweg zur Base zu stürzen. Das wagte sonst keiner. Rose verkörpert in Cincinnati, wofür es landesweit noch klingendere Namen gibt: den Glauben an das klassenlose, das rassenfreie Spiel. Joe DiMaggio, Sohn sizilianischer Einwanderer, oder Jackie Robinson, der als erster Schwarzer 1947 in der Major League spielen durfte - sie alle schafften mit Baseball den Aufstieg. Viele Stars stürzten wieder ab, genau wie Rose: 1989 verdammte ihn die Liga, als der Reds-Manager beim Wetten erwischt wurde. Ein Sünder, der heute in Las Vegas lebt und Autogramme verkauft. Mindestpreis 60 Dollar.

Dennoch, am Ohio halten sie Pete Rose die Treue. ,,In Amerika verdient jeder eine zweite Chance'', sagt Elmar Gruber beim Verlassen des Stadions. Und dieser Satz zielt eigentlich schon auf einen anderen Spieler. Auf Josh Hamilton, der vielleicht Cincinnatis nächster Held wird. Vor sieben Jahren galt er als Wunderkind, dann verletzte er sich, flüchtete sich fünf Jahre lang zu Alkohol und Drogen. Heute hat er erstmals gespielt, eingewechselt unter stehendem Beifall für ein kurzes Inning. 5:1 und eine große Hoffnung - was für ein neuer Sommer!

© SZ vom 10.4.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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