Europameisterschaft im Kanu:Alle Daten über Bord

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Bootsspitze voraus: Max Rendschmidt, Tom Liebscher, Jakob Schopf, und Max Lemke (von links) im Paradeboot. (Foto: Memmler/Eibner/Imago)

Der Kajak-Vierer, das Goldboot von Tokio, hat die Vergangenheit hinter sich gelassen - und gewinnt im letzten Saisonrennen den Europameistertitel.

Von Barbara Klimke

Links standen Hostessen im Dirndl. Rechts hatte der Pflanzenmann Aufstellung genommen, der bei diesem Rennen an der Regattastrecke die traditionelle Rolle der Blumenfrau übernahm. Und als er bei der Gratulation die ökologisch nachhaltigen Setzlinge im Topf übergab, die in München die Rosenbouquets ersetzen, als er die vier Sieger umarmte und ihnen freundlich die Schultern tätschelte, da schimmerte es verdächtig feucht in seinen Augen. "Ich bin halt nah am Wasser gebaut", sagte Ronald Rauhe. Die Ehrung der alten Kumpels zu übernehmen, das sei "nochmal ein kleiner Abschied" für ihn gewesen.

Niemanden hätte es sonderlich verwundert, hätte der drahtige Mann einige Minuten zuvor sein blaues Sakko abgestreift und sich noch einmal hineingeschwungen in den langen, schmalen Viererkajak. Er hatte ja lange genug daringesessen. Fünf Jahre, um genau zu sein, bis zu den Olympischen Sommerspielen vor zwölf Monaten in Tokio, als er sich mit Max Rendschmidt, Tom Liebscher und Max Lemke im Alter von damals 39 Jahren letztmals über die goldene Ziellinie kämpfte. Natürlich sei er nun in Gedanken noch einmal mitgepaddelt, sagte Rauhe, jeden Zentimeter Kraft und Anstrengung auf der 500-Meter-Strecke hat sein Muskelgedächtnis gespeichert. Doch das Flaggschiff des Deutschen Kanu-Verbands steuert, seit der alte Kommandant von Bord ging, nun auf einem neuen Kurs.

Perspektivwechsel: Die Anmut der Strecke erschließt sich nur vom Wasser aus, weiß Tom Liebscher, Kommandant des Goldvierers. (Foto: Memmler/Eibner/Imago)

Dass die grobe Richtung stimmt, hat sich für die Beteiligten jedoch im Grunde erst am Samstag bei der Europameisterschaft in Oberschleißheim bestätigt, als der Vierer den Konkurrenzbooten im Schlussspurt enteilte. Auch Rauhe, der zweimalige Olympiasieger, der neben seinem Job als Blumenfee die Kanuwettbewerbe der European Championships als Co-Kommentator fürs Fernsehen analysierte, sah eine deutliche Steigerung im Vergleich zur Weltmeisterschaft vor zwei Wochen in Kanada, als der Vierer den zweiten Platz hinter den derzeit beherrschenden Spaniern belegte: Der EM-Finallauf, sagte er, sei "das beste Rennen der Saison" gewesen - auch wenn die spanische Armada diesmal kein großartig bemanntes Boot ins Wasser geschickt hatte.

Der Vierer steht, ähnlich wie Deutschlandachter der Ruderer, stets unter Erfolgszwang

Es war nur einer von acht EM-Titeln für die Flotte des Deutschen Kanuverbands bis Sonntagnachmittag; auch die Para-Kanutinnen Edina Müller und Lillemor Köper, der Langstrecken-Vierer und -Zweier, das Canadier-Duo und die Solisten Jacob Schöpf und Sebastian Bendel gewannen ihre Finals. Doch die Erleichterung des Kanu-Quartetts der olympischen 500-m-Distanz war viel größer, als es Außenstehende hätten vermuten können. Denn dieser Vierer steht, ähnlich wie der ruhmreiche Deutschlandachter der Ruderer, stets unter dem besonderen Erfolgszwang des verbandseigenen Paradeboots. Die Besatzung habe nun auch in neuer Formation "die Leistung gezeigt, die von uns erwartet wurde", führte der der neue Kommandant, Tom Liebscher, 29, aus, und im Klartext heiße das immer "nichts Geringeres als Gold".

Zwar wurde nach Olympia nur eine Position umbesetzt: Jacob Schopf, 23, aus Berlin rückte für Ronald Rauhe nach. Aber jede Veränderung stört ein sensibles Gleichgewicht im kippeligen Mannschaftsboot, das erst nach komplizierten Anpassungsprozessen austariert werden kann. "Wir haben alle Stärken und Schwächen, Taktik und Training angepasst", sagt Liebscher. Schopf, der neue Mann, sitzt nicht auf Rauhes alter Position, sondern weiter hinten; Liebscher ist nun derjenige, der für alle den Paddeltakt vorgibt. Und trotzdem befand sich der Vierer Anfang der Saison noch auf einem kaum wahrnehmbaren Schlingerkurs, auch weil sich die Athleten in der nacholympischen Saison etwas mehr auf ihr Studium oder ihre Ausbildung konzentrierten. Erschwerend hinzu kam bei drei der vier Kanuten eine Corona-Infektion.

Anfangs, sagt Liebscher, habe sich das Team beständig mit dem Goldboot von Tokio verglichen. Und das war schon auf den ersten 100 Metern eine Sekunde schneller durchs Wasser gerauscht als der neuformierte Kajakvierer: Also hielten sie im Mai Mannschaftsrat und warfen den statistischen Ballast über Bord: "Wir haben gesagt: Wir legen alle Daten weg und sammeln neues Material." Erst von dem Moment an, sagt Liebscher, "konnten wir uns als Team lösen und frei trainieren".

Seit in München ihre Kanuspitze im letzten Rennen der Saison als erste über die Ziellinie schoss, wissen sie, dass sie zu einem schlagfertigen Ensemble zusammengewachsen sind. Ihr altes Boot existiert nicht mehr. Aus drei Routiniers und einem Novizen ist etwas Neues entstanden. "Das ist es", sagte Liebscher, "was uns heute gelungen ist: Zu zeigen, wir sind eine neue Crew." Nicht nur Ronald Rauhe hat letztlich Abschied genommen, auch der Vierer ist ihm nun endgültig davongeschippert. Den Blumentopf seines ehemaligen Kumpans will Liebscher nun in Ehren halten. Ohnehin gefiel ihm die Idee, sich den Setzling im Garten als Erinnerung zu bewahren: als "Münchenpflanze", wie er sagte.

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